einem heissen Drahte gereizt wurden, geriethen die Muskeln der hinteren Gliedmassen in eine Bewegung, als ob sie vor der Ver¬ letzung zurückführen. Dasselbe geschah an einem anderen Kätz¬ chen, dem ich den Kopf ganz abgeschnitten hatte. Bei Wieder¬ holung dieses Versuchs fand ich, dass nach Durchschneidung des Rückenmarks zwischen den Lendenwirbeln und dem Hei¬ ligenbein die hinteren Gliedmassen jene Bewegungsfähigkeit ver¬ loren, der Theil unterhalb dem Schnitt, der Schwanz dieselbe aber behielt. Man könnte demzufolge sagen, es habe hier das Rückenmark unterhalb der Durchschnittsstelle zum Sensorium gedient; darauf lässt sich indess erwidern, dass, da auch in dem abgeschnittenen Kopfe die Bewegungsfähigkeit fortdauert, wie das Verhalten des Ohres auf Kneipen und auf Berührung mit einem heissen Drahte zeigt, hier Bewusstsein und Empfin¬ dung in zwei von einander getrennten Theilen des Körpers vor¬ handen sein müssten. Ein Acephalus gab die nämlichen Er¬ scheinungen; er zog die Beine an den Leib, wenn man seine Fusssohlen kitzelte, konnte saugen, schied Urin und Faeces aus und verschluckte Nahrung. -- Diese Thatsachen zeigen klar (??), dass instinktartige oder vielmehr automatische Bewegungen ohne Dazwischenkunft des Sensorium commune und deshalb ohne Empfindung und Bewusstsein statt finden können." (Gilbert Blane, Select Dissertations on several subjects of medical science. p. 262.)
Nach ihm hat sich Cruveilhier mit folgenden Argumen¬ ten für dieselbe Ansicht ausgesprochen:
"Die Unabhängigkeit der verschiedenen Theile der Medulla vom Gehirn, die man so allgemein in der neueren Zeit annimmt, scheint mir ein grosser physiologischer Missgriff (?), wenn auch durch geistreiche Versuche veranlasst. Die Meinung der Alten, welche das Rückenmark als einen starken Nervenstrang betrach¬ teten, bestimmt alle Nerven des Organismus aufzunehmen, um dem Gehirn Eindrücke zuzuführen und von da den Impuls zu willkürlichen Bewegungen oder zur Anregung organischer Pro¬ zesse zu erfahren, stimmt weit besser mit den Thatsachen und
einem heissen Drahte gereizt wurden, geriethen die Muskeln der hinteren Gliedmassen in eine Bewegung, als ob sie vor der Ver¬ letzung zurückführen. Dasselbe geschah an einem anderen Kätz¬ chen, dem ich den Kopf ganz abgeschnitten hatte. Bei Wieder¬ holung dieses Versuchs fand ich, dass nach Durchschneidung des Rückenmarks zwischen den Lendenwirbeln und dem Hei¬ ligenbein die hinteren Gliedmassen jene Bewegungsfähigkeit ver¬ loren, der Theil unterhalb dem Schnitt, der Schwanz dieselbe aber behielt. Man könnte demzufolge sagen, es habe hier das Rückenmark unterhalb der Durchschnittsstelle zum Sensorium gedient; darauf lässt sich indess erwidern, dass, da auch in dem abgeschnittenen Kopfe die Bewegungsfähigkeit fortdauert, wie das Verhalten des Ohres auf Kneipen und auf Berührung mit einem heissen Drahte zeigt, hier Bewusstsein und Empfin¬ dung in zwei von einander getrennten Theilen des Körpers vor¬ handen sein müssten. Ein Acephalus gab die nämlichen Er¬ scheinungen; er zog die Beine an den Leib, wenn man seine Fusssohlen kitzelte, konnte saugen, schied Urin und Faeces aus und verschluckte Nahrung. — Diese Thatsachen zeigen klar (??), dass instinktartige oder vielmehr automatische Bewegungen ohne Dazwischenkunft des Sensorium commune und deshalb ohne Empfindung und Bewusstsein statt finden können.“ (Gilbert Blane, Select Dissertations on several subjects of medical science. p. 262.)
Nach ihm hat sich Cruveilhier mit folgenden Argumen¬ ten für dieselbe Ansicht ausgesprochen:
„Die Unabhängigkeit der verschiedenen Theile der Medulla vom Gehirn, die man so allgemein in der neueren Zeit annimmt, scheint mir ein grosser physiologischer Missgriff (?), wenn auch durch geistreiche Versuche veranlasst. Die Meinung der Alten, welche das Rückenmark als einen starken Nervenstrang betrach¬ teten, bestimmt alle Nerven des Organismus aufzunehmen, um dem Gehirn Eindrücke zuzuführen und von da den Impuls zu willkürlichen Bewegungen oder zur Anregung organischer Pro¬ zesse zu erfahren, stimmt weit besser mit den Thatsachen und
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einem heissen Drahte gereizt wurden, geriethen die Muskeln der
hinteren Gliedmassen in eine Bewegung, als ob sie vor der Ver¬
letzung zurückführen. Dasselbe geschah an einem anderen Kätz¬
chen, dem ich den Kopf ganz abgeschnitten hatte. Bei Wieder¬
holung dieses Versuchs fand ich, dass nach Durchschneidung
des Rückenmarks zwischen den Lendenwirbeln und dem Hei¬
ligenbein die hinteren Gliedmassen jene Bewegungsfähigkeit ver¬
loren, der Theil unterhalb dem Schnitt, der Schwanz dieselbe
aber behielt. Man könnte demzufolge sagen, es habe hier das
Rückenmark unterhalb der Durchschnittsstelle zum Sensorium
gedient; darauf lässt sich indess erwidern, dass, da auch in
dem abgeschnittenen Kopfe die Bewegungsfähigkeit fortdauert,
wie das Verhalten des Ohres auf Kneipen und auf Berührung
mit einem heissen Drahte zeigt, hier Bewusstsein und Empfin¬
dung in zwei von einander getrennten Theilen des Körpers vor¬
handen sein müssten. Ein Acephalus gab die nämlichen Er¬
scheinungen; er zog die Beine an den Leib, wenn man seine
Fusssohlen kitzelte, konnte saugen, schied Urin und Faeces aus
und verschluckte Nahrung. — Diese Thatsachen zeigen klar (??),
dass instinktartige oder vielmehr automatische Bewegungen ohne
Dazwischenkunft des Sensorium commune und deshalb ohne
Empfindung und Bewusstsein statt finden können.“ (Gilbert
Blane, Select Dissertations on several subjects of medical
science. p. 262.)
Nach ihm hat sich Cruveilhier mit folgenden Argumen¬
ten für dieselbe Ansicht ausgesprochen:
„Die Unabhängigkeit der verschiedenen Theile der Medulla
vom Gehirn, die man so allgemein in der neueren Zeit annimmt,
scheint mir ein grosser physiologischer Missgriff (?), wenn auch
durch geistreiche Versuche veranlasst. Die Meinung der Alten,
welche das Rückenmark als einen starken Nervenstrang betrach¬
teten, bestimmt alle Nerven des Organismus aufzunehmen, um
dem Gehirn Eindrücke zuzuführen und von da den Impuls zu
willkürlichen Bewegungen oder zur Anregung organischer Pro¬
zesse zu erfahren, stimmt weit besser mit den Thatsachen und
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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/32>, abgerufen am 16.02.2025.
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