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Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

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wiegend Hohlheit oder gar schnöde Unwahrheit aufweist. Denn
wenn wir von der Sphäre der Erscheinung hinabsteigen zur ent¬
scheidenden Quelle, in die Tiefe der Menschenseele, so sehen wir
bald, wie jene Einseitigkeit deren Naturgesetze schwer verletzt. Die
Ueberbildung meint, es sei die Richtung aufs Ganze und die aufs
Einzelne, der universale und der partikulare Trieb, um welche
Zweiheit es sich hier handelt, nur anzusehen als zwei Stufen des
Vollkommenen und Unvollkommenen, von denen das Letztere na¬
türlich zu weichen hätte, wenn das Erstere eintritt. Hierin aber
liegt ein schwerer Irrthum, wie so oft, wo eine gewaltsam auf
Auseinanderentwicklung bedachte Anschauungsweise verschiedene na¬
türliche Potenzen in solcher schulmäßigen Art rangiren will, um
in der doch unendlich viel reicheren Natur Eine gerade Linie des
dialektischen Fortschritts von Unten nach Oben herauszubekommen.
So repräsentiren in Wahrheit auch hier jene Triebe zwei gleich¬
geordnete, wenigstens fortdauernd neben einander berechtigte Stre¬
bungen des Gemüths. Man könnte sie den centrifugalen und cen¬
tripetalen Zug nennen (nur freilich nicht im Sinn des gegenwär¬
tigen deutschen Reichstags!) und dürfte etwa mit einer geistvoll¬
kühn intuitiven Naturphilosophie daran erinnern, wie schon im
vorbildenden niedersten Sein der Materie sich als Anziehung und
Abstoßung die gleiche Doppelheit der natürlichen Kraftrichtung
spüren lasse, in deren Gleichgewicht der Bestand der körperlichen
Gebilde beruhe. In unserem Seelenleben jedenfalls kehren sie über¬
all wieder und sind mit ihrem gegenseitigen Verhältniß für so
Vieles (z. B. für das spekulative Verständniß des Guten und Bö¬
sen) entscheidend.

Nun versucht es eben der Kosmopolitismus, die Eine Seite
abzutödten, als wäre sie ganz zu überwinden, weil sie immerhin
untergeordnet sein soll. Ein solches Unterfangen aber kann als
gewaltsame Meisterung und Korrektion der Natur selbst nur Ver¬

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wiegend Hohlheit oder gar ſchnöde Unwahrheit aufweist. Denn
wenn wir von der Sphäre der Erſcheinung hinabſteigen zur ent¬
ſcheidenden Quelle, in die Tiefe der Menſchenſeele, ſo ſehen wir
bald, wie jene Einſeitigkeit deren Naturgeſetze ſchwer verletzt. Die
Ueberbildung meint, es ſei die Richtung aufs Ganze und die aufs
Einzelne, der univerſale und der partikulare Trieb, um welche
Zweiheit es ſich hier handelt, nur anzuſehen als zwei Stufen des
Vollkommenen und Unvollkommenen, von denen das Letztere na¬
türlich zu weichen hätte, wenn das Erſtere eintritt. Hierin aber
liegt ein ſchwerer Irrthum, wie ſo oft, wo eine gewaltſam auf
Auseinanderentwicklung bedachte Anſchauungsweiſe verſchiedene na¬
türliche Potenzen in ſolcher ſchulmäßigen Art rangiren will, um
in der doch unendlich viel reicheren Natur Eine gerade Linie des
dialektiſchen Fortſchritts von Unten nach Oben herauszubekommen.
So repräſentiren in Wahrheit auch hier jene Triebe zwei gleich¬
geordnete, wenigſtens fortdauernd neben einander berechtigte Stre¬
bungen des Gemüths. Man könnte ſie den centrifugalen und cen¬
tripetalen Zug nennen (nur freilich nicht im Sinn des gegenwär¬
tigen deutſchen Reichstags!) und dürfte etwa mit einer geiſtvoll¬
kühn intuitiven Naturphiloſophie daran erinnern, wie ſchon im
vorbildenden niederſten Sein der Materie ſich als Anziehung und
Abſtoßung die gleiche Doppelheit der natürlichen Kraftrichtung
ſpüren laſſe, in deren Gleichgewicht der Beſtand der körperlichen
Gebilde beruhe. In unſerem Seelenleben jedenfalls kehren ſie über¬
all wieder und ſind mit ihrem gegenſeitigen Verhältniß für ſo
Vieles (z. B. für das ſpekulative Verſtändniß des Guten und Bö¬
ſen) entſcheidend.

Nun verſucht es eben der Kosmopolitismus, die Eine Seite
abzutödten, als wäre ſie ganz zu überwinden, weil ſie immerhin
untergeordnet ſein ſoll. Ein ſolches Unterfangen aber kann als
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[17/0027] wiegend Hohlheit oder gar ſchnöde Unwahrheit aufweist. Denn wenn wir von der Sphäre der Erſcheinung hinabſteigen zur ent¬ ſcheidenden Quelle, in die Tiefe der Menſchenſeele, ſo ſehen wir bald, wie jene Einſeitigkeit deren Naturgeſetze ſchwer verletzt. Die Ueberbildung meint, es ſei die Richtung aufs Ganze und die aufs Einzelne, der univerſale und der partikulare Trieb, um welche Zweiheit es ſich hier handelt, nur anzuſehen als zwei Stufen des Vollkommenen und Unvollkommenen, von denen das Letztere na¬ türlich zu weichen hätte, wenn das Erſtere eintritt. Hierin aber liegt ein ſchwerer Irrthum, wie ſo oft, wo eine gewaltſam auf Auseinanderentwicklung bedachte Anſchauungsweiſe verſchiedene na¬ türliche Potenzen in ſolcher ſchulmäßigen Art rangiren will, um in der doch unendlich viel reicheren Natur Eine gerade Linie des dialektiſchen Fortſchritts von Unten nach Oben herauszubekommen. So repräſentiren in Wahrheit auch hier jene Triebe zwei gleich¬ geordnete, wenigſtens fortdauernd neben einander berechtigte Stre¬ bungen des Gemüths. Man könnte ſie den centrifugalen und cen¬ tripetalen Zug nennen (nur freilich nicht im Sinn des gegenwär¬ tigen deutſchen Reichstags!) und dürfte etwa mit einer geiſtvoll¬ kühn intuitiven Naturphiloſophie daran erinnern, wie ſchon im vorbildenden niederſten Sein der Materie ſich als Anziehung und Abſtoßung die gleiche Doppelheit der natürlichen Kraftrichtung ſpüren laſſe, in deren Gleichgewicht der Beſtand der körperlichen Gebilde beruhe. In unſerem Seelenleben jedenfalls kehren ſie über¬ all wieder und ſind mit ihrem gegenſeitigen Verhältniß für ſo Vieles (z. B. für das ſpekulative Verſtändniß des Guten und Bö¬ ſen) entſcheidend. Nun verſucht es eben der Kosmopolitismus, die Eine Seite abzutödten, als wäre ſie ganz zu überwinden, weil ſie immerhin untergeordnet ſein ſoll. Ein ſolches Unterfangen aber kann als gewaltſame Meiſterung und Korrektion der Natur ſelbſt nur Ver¬ III. 36. 2

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Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/27>, abgerufen am 11.12.2024.