ppe_056.001 für das Wesentliche der sprachlichen Gestalt eingetreten: "Den Wert ppe_056.002 der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, ppe_056.003 Gelahrtheit), sondern die Form, d. h. durchaus nichts Äußerliches, ppe_056.004 sondern jenes Tieferregende in Maß und Klang, wodurch zu ppe_056.005 allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, ppe_056.006 den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben."
ppe_056.007 Bleiben wir zunächst bei der Überlieferung des einzelnen Werkes ppe_056.008 und sehen von allen Trabanten, die ihm beigeordnet sind, ab. Mit ppe_056.009 der Aufnahme durch den Leser gelangt es, wie Roman Ingarden in ppe_056.010 seiner scharfsinnigen phänomenologischen Untersuchung gesagt hat, ppe_056.011 zur "Konkretisierung", die einen Mittelzustand zwischen Idealität ppe_056.012 und Realität darstellt. In zahllosen Konkretisierungen kann das Werk ppe_056.013 ebenso wie in der vielfältigen Überlieferung Wandlungen durchmachen, ppe_056.014 die ein Beweis seines Lebens sind. Aber welches ist seine ppe_056.015 eigentliche Seinsweise? Man hat gesagt, daß die Dichtung in den Erlebnissen ppe_056.016 und der Konzeption des Dichters ihre ideelle Existenz habe ppe_056.017 und in der Aufnahme durch den Leser sie wiedergewinnen müsse. ppe_056.018 Das würde bedeuten, daß die Sprachgestalt, die der Dichter seinem ppe_056.019 Werk gegeben hat, unter seinem Wollen geblieben sei, was neuplatonischer ppe_056.020 Auffassung entspricht und mit gelegentlichen Klagen Goethes ppe_056.021 über die Unvollkommenheit der Sprache übereinstimmt. Aber der ppe_056.022 Leser ist am wenigsten imstande, diese Unvollkommenheit zu heilen. ppe_056.023 Tatsächlich wird die Dichtung zum Kunstwerk erst in der Sprachform, ppe_056.024 und oft bestätigt sich sogar in ihrem Werden, was Heinrich ppe_056.025 von Kleists Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken ppe_056.026 beim Reden" beobachtet: "L'idee vient en parlant."
ppe_056.027 Man hat auch ungeschrieben gebliebenen Dichtungen einen existentiellen ppe_056.028 Wert beimessen wollen, und in der Tat mögen sie, was unkontrollierbar ppe_056.029 bleibt, bei manchem mittelmäßigen Dichter seine besten ppe_056.030 gewesen sein oder bei frühverstorbenen Genies das Beste zu werden ppe_056.031 versprochen haben. Aber wenn wir von Plänen der größten Dichter ppe_056.032 nur Titel oder skizzenhafte Szenare haben, so kann diese Überlieferung ppe_056.033 lediglich durch Beziehung zu anderen ausgeführten Werken ppe_056.034 literarischen Wert gewinnen; allenfalls auch durch einen Einblick in ppe_056.035 die Arbeitsweise, der zu Analogieschlüssen auf die Entstehung anderer ppe_056.036 Werke berechtigt. Daß Lessing eine "Virginia" plante, hat Bedeutung ppe_056.037 für die spätere "Emilia Galotti". Daß Goethe in Italien an ppe_056.038 eine "Iphigenie in Delphi" dachte, beleuchtet in gewissem Sinne das ppe_056.039 Ende der "Iphigenie in Tauris". Daß Schiller in seinen Titelverzeichnissen ppe_056.040 "Der sich für einen andern ausgebende Betrüger" notierte, ppe_056.041 zeigt, in welcher Weise er schon vor der Stoffindung um die Probleme
ppe_056.001 für das Wesentliche der sprachlichen Gestalt eingetreten: „Den Wert ppe_056.002 der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, ppe_056.003 Gelahrtheit), sondern die Form, d. h. durchaus nichts Äußerliches, ppe_056.004 sondern jenes Tieferregende in Maß und Klang, wodurch zu ppe_056.005 allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, ppe_056.006 den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben.“
ppe_056.007 Bleiben wir zunächst bei der Überlieferung des einzelnen Werkes ppe_056.008 und sehen von allen Trabanten, die ihm beigeordnet sind, ab. Mit ppe_056.009 der Aufnahme durch den Leser gelangt es, wie Roman Ingarden in ppe_056.010 seiner scharfsinnigen phänomenologischen Untersuchung gesagt hat, ppe_056.011 zur „Konkretisierung“, die einen Mittelzustand zwischen Idealität ppe_056.012 und Realität darstellt. In zahllosen Konkretisierungen kann das Werk ppe_056.013 ebenso wie in der vielfältigen Überlieferung Wandlungen durchmachen, ppe_056.014 die ein Beweis seines Lebens sind. Aber welches ist seine ppe_056.015 eigentliche Seinsweise? Man hat gesagt, daß die Dichtung in den Erlebnissen ppe_056.016 und der Konzeption des Dichters ihre ideelle Existenz habe ppe_056.017 und in der Aufnahme durch den Leser sie wiedergewinnen müsse. ppe_056.018 Das würde bedeuten, daß die Sprachgestalt, die der Dichter seinem ppe_056.019 Werk gegeben hat, unter seinem Wollen geblieben sei, was neuplatonischer ppe_056.020 Auffassung entspricht und mit gelegentlichen Klagen Goethes ppe_056.021 über die Unvollkommenheit der Sprache übereinstimmt. Aber der ppe_056.022 Leser ist am wenigsten imstande, diese Unvollkommenheit zu heilen. ppe_056.023 Tatsächlich wird die Dichtung zum Kunstwerk erst in der Sprachform, ppe_056.024 und oft bestätigt sich sogar in ihrem Werden, was Heinrich ppe_056.025 von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken ppe_056.026 beim Reden“ beobachtet: „L'idée vient en parlant.“
ppe_056.027 Man hat auch ungeschrieben gebliebenen Dichtungen einen existentiellen ppe_056.028 Wert beimessen wollen, und in der Tat mögen sie, was unkontrollierbar ppe_056.029 bleibt, bei manchem mittelmäßigen Dichter seine besten ppe_056.030 gewesen sein oder bei frühverstorbenen Genies das Beste zu werden ppe_056.031 versprochen haben. Aber wenn wir von Plänen der größten Dichter ppe_056.032 nur Titel oder skizzenhafte Szenare haben, so kann diese Überlieferung ppe_056.033 lediglich durch Beziehung zu anderen ausgeführten Werken ppe_056.034 literarischen Wert gewinnen; allenfalls auch durch einen Einblick in ppe_056.035 die Arbeitsweise, der zu Analogieschlüssen auf die Entstehung anderer ppe_056.036 Werke berechtigt. Daß Lessing eine „Virginia“ plante, hat Bedeutung ppe_056.037 für die spätere „Emilia Galotti“. Daß Goethe in Italien an ppe_056.038 eine „Iphigenie in Delphi“ dachte, beleuchtet in gewissem Sinne das ppe_056.039 Ende der „Iphigenie in Tauris“. Daß Schiller in seinen Titelverzeichnissen ppe_056.040 „Der sich für einen andern ausgebende Betrüger“ notierte, ppe_056.041 zeigt, in welcher Weise er schon vor der Stoffindung um die Probleme
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/80>, abgerufen am 22.11.2024.
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