Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

Bild:
<< vorherige Seite
ppe_525.001
DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN ppe_525.002
(1929)
ppe_525.003

So our virtues ppe_525.004
Lie in the interpretation of the time. ppe_525.005
Shakespeare, Coriolanus IV, 7.

ppe_525.006
1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte
ppe_525.007

ppe_525.008
An dem Generationsproblem ist alle Wissenschaft vom Menschen ppe_525.009
und seinen Schöpfungen in irgendeiner Weise beteiligt: Universalgeschichte, ppe_525.010
Geschichte der politischen Ideen, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie, ppe_525.011
Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Entwicklungs- ppe_525.012
und Vererbungslehre, Biologie, Psychologie und Pädagogik, ppe_525.013
Sprach- und Stilgeschichte, Geschmacksgeschichte, Geschichte aller ppe_525.014
Künste und Wissenschaften. Es sind sowohl Naturwissenschaften als ppe_525.015
Geisteswissenschaften. Jede arbeitet vielleicht mit einem andern Begriff ppe_525.016
der Generation, aber alle müssen um seine Ergründung bemüht ppe_525.017
sein.

ppe_525.018
Wenn nun innerhalb der Geistesgeschichte die Literaturwissenschaft ppe_525.019
ganz besonders lebhaft die Frage nach dem Spannungsverhältnis ppe_525.020
zwischen den gleichzeitig lebenden Altersklassen anhängig macht, ppe_525.021
so liegt es daran, daß sie in Darstellung des geschichtlichen Verlaufs ppe_525.022
schlechterdings an die Generationsfolge gebunden ist. Es bleibt ihr ppe_525.023
kaum eine andere Möglichkeit des Gesamtüberblicks als die Gruppierung ppe_525.024
nach zeitlichen Gemeinschaften.

ppe_525.025
Die Tatsachen der Abhängigkeit, der Wechselwirkung und einer gewissen ppe_525.026
Gleichartigkeit aller literarischen Erzeugnisse, die von Altersgenossen ppe_525.027
innerhalb eines Kulturkreises aus gleichem Lebenszusammenhang ppe_525.028
hervorgebracht werden, diktieren gebieterisch die Zusammenfassung ppe_525.029
des Gleichartigen und Gleichzeitigen, denn so verschieden ppe_525.030
diese Werke und Persönlichkeiten untereinander sein mögen, so ppe_525.031
stellen sie doch im Vergleich mit den Männern und Werken jeder ppe_525.032
andern Periode eine Einheit dar. Der Überblick über die literarische ppe_525.033
Produktionsmasse kann nicht anders Gestalt gewinnen als durch Einordnung ppe_525.034
in die geistigen Bewegungen, durch die Altersgleiche in

ppe_525.001
DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN ppe_525.002
(1929)
ppe_525.003

So our virtues ppe_525.004
Lie in the interpretation of the time. ppe_525.005
Shakespeare, Coriolanus IV, 7.

ppe_525.006
1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte
ppe_525.007

ppe_525.008
An dem Generationsproblem ist alle Wissenschaft vom Menschen ppe_525.009
und seinen Schöpfungen in irgendeiner Weise beteiligt: Universalgeschichte, ppe_525.010
Geschichte der politischen Ideen, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie, ppe_525.011
Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Entwicklungs- ppe_525.012
und Vererbungslehre, Biologie, Psychologie und Pädagogik, ppe_525.013
Sprach- und Stilgeschichte, Geschmacksgeschichte, Geschichte aller ppe_525.014
Künste und Wissenschaften. Es sind sowohl Naturwissenschaften als ppe_525.015
Geisteswissenschaften. Jede arbeitet vielleicht mit einem andern Begriff ppe_525.016
der Generation, aber alle müssen um seine Ergründung bemüht ppe_525.017
sein.

ppe_525.018
Wenn nun innerhalb der Geistesgeschichte die Literaturwissenschaft ppe_525.019
ganz besonders lebhaft die Frage nach dem Spannungsverhältnis ppe_525.020
zwischen den gleichzeitig lebenden Altersklassen anhängig macht, ppe_525.021
so liegt es daran, daß sie in Darstellung des geschichtlichen Verlaufs ppe_525.022
schlechterdings an die Generationsfolge gebunden ist. Es bleibt ihr ppe_525.023
kaum eine andere Möglichkeit des Gesamtüberblicks als die Gruppierung ppe_525.024
nach zeitlichen Gemeinschaften.

ppe_525.025
Die Tatsachen der Abhängigkeit, der Wechselwirkung und einer gewissen ppe_525.026
Gleichartigkeit aller literarischen Erzeugnisse, die von Altersgenossen ppe_525.027
innerhalb eines Kulturkreises aus gleichem Lebenszusammenhang ppe_525.028
hervorgebracht werden, diktieren gebieterisch die Zusammenfassung ppe_525.029
des Gleichartigen und Gleichzeitigen, denn so verschieden ppe_525.030
diese Werke und Persönlichkeiten untereinander sein mögen, so ppe_525.031
stellen sie doch im Vergleich mit den Männern und Werken jeder ppe_525.032
andern Periode eine Einheit dar. Der Überblick über die literarische ppe_525.033
Produktionsmasse kann nicht anders Gestalt gewinnen als durch Einordnung ppe_525.034
in die geistigen Bewegungen, durch die Altersgleiche in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0549" n="E525"/>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="ppe_525.001"/>
          <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN</hi><lb n="ppe_525.002"/>
(1929)</hi> </head>
          <lb n="ppe_525.003"/>
          <p> <hi rendition="#right"> <hi rendition="#aq">So our virtues <lb n="ppe_525.004"/>
Lie in the interpretation of the time. <lb n="ppe_525.005"/> <hi rendition="#i">Shakespeare, Coriolanus IV, 7.</hi></hi> </hi> </p>
          <lb n="ppe_525.006"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c">1. <hi rendition="#g">Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte</hi></hi> </head>
            <lb n="ppe_525.007"/>
            <p><lb n="ppe_525.008"/>
An dem Generationsproblem ist alle Wissenschaft vom Menschen <lb n="ppe_525.009"/>
und seinen Schöpfungen in irgendeiner Weise beteiligt: Universalgeschichte, <lb n="ppe_525.010"/>
Geschichte der politischen Ideen, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie, <lb n="ppe_525.011"/>
Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Entwicklungs- <lb n="ppe_525.012"/>
und Vererbungslehre, Biologie, Psychologie und Pädagogik, <lb n="ppe_525.013"/>
Sprach- und Stilgeschichte, Geschmacksgeschichte, Geschichte aller <lb n="ppe_525.014"/>
Künste und Wissenschaften. Es sind sowohl Naturwissenschaften als <lb n="ppe_525.015"/>
Geisteswissenschaften. Jede arbeitet vielleicht mit einem andern Begriff <lb n="ppe_525.016"/>
der Generation, aber alle müssen um seine Ergründung bemüht <lb n="ppe_525.017"/>
sein.</p>
            <p><lb n="ppe_525.018"/>
Wenn nun innerhalb der Geistesgeschichte die Literaturwissenschaft <lb n="ppe_525.019"/>
ganz besonders lebhaft die Frage nach dem Spannungsverhältnis <lb n="ppe_525.020"/>
zwischen den gleichzeitig lebenden Altersklassen anhängig macht, <lb n="ppe_525.021"/>
so liegt es daran, daß sie in Darstellung des geschichtlichen Verlaufs <lb n="ppe_525.022"/>
schlechterdings an die Generationsfolge gebunden ist. Es bleibt ihr <lb n="ppe_525.023"/>
kaum eine andere Möglichkeit des Gesamtüberblicks als die Gruppierung <lb n="ppe_525.024"/>
nach zeitlichen Gemeinschaften.</p>
            <p><lb n="ppe_525.025"/>
Die Tatsachen der Abhängigkeit, der Wechselwirkung und einer gewissen <lb n="ppe_525.026"/>
Gleichartigkeit aller literarischen Erzeugnisse, die von Altersgenossen <lb n="ppe_525.027"/>
innerhalb eines Kulturkreises aus gleichem Lebenszusammenhang <lb n="ppe_525.028"/>
hervorgebracht werden, diktieren gebieterisch die Zusammenfassung <lb n="ppe_525.029"/>
des Gleichartigen und Gleichzeitigen, denn so verschieden <lb n="ppe_525.030"/>
diese Werke und Persönlichkeiten untereinander sein mögen, so <lb n="ppe_525.031"/>
stellen sie doch im Vergleich mit den Männern und Werken jeder <lb n="ppe_525.032"/>
andern Periode eine Einheit dar. Der Überblick über die literarische <lb n="ppe_525.033"/>
Produktionsmasse kann nicht anders Gestalt gewinnen als durch Einordnung <lb n="ppe_525.034"/>
in die geistigen Bewegungen, durch die Altersgleiche in
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E525/0549] ppe_525.001 DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN ppe_525.002 (1929) ppe_525.003 So our virtues ppe_525.004 Lie in the interpretation of the time. ppe_525.005 Shakespeare, Coriolanus IV, 7. ppe_525.006 1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte ppe_525.007 ppe_525.008 An dem Generationsproblem ist alle Wissenschaft vom Menschen ppe_525.009 und seinen Schöpfungen in irgendeiner Weise beteiligt: Universalgeschichte, ppe_525.010 Geschichte der politischen Ideen, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie, ppe_525.011 Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Entwicklungs- ppe_525.012 und Vererbungslehre, Biologie, Psychologie und Pädagogik, ppe_525.013 Sprach- und Stilgeschichte, Geschmacksgeschichte, Geschichte aller ppe_525.014 Künste und Wissenschaften. Es sind sowohl Naturwissenschaften als ppe_525.015 Geisteswissenschaften. Jede arbeitet vielleicht mit einem andern Begriff ppe_525.016 der Generation, aber alle müssen um seine Ergründung bemüht ppe_525.017 sein. ppe_525.018 Wenn nun innerhalb der Geistesgeschichte die Literaturwissenschaft ppe_525.019 ganz besonders lebhaft die Frage nach dem Spannungsverhältnis ppe_525.020 zwischen den gleichzeitig lebenden Altersklassen anhängig macht, ppe_525.021 so liegt es daran, daß sie in Darstellung des geschichtlichen Verlaufs ppe_525.022 schlechterdings an die Generationsfolge gebunden ist. Es bleibt ihr ppe_525.023 kaum eine andere Möglichkeit des Gesamtüberblicks als die Gruppierung ppe_525.024 nach zeitlichen Gemeinschaften. ppe_525.025 Die Tatsachen der Abhängigkeit, der Wechselwirkung und einer gewissen ppe_525.026 Gleichartigkeit aller literarischen Erzeugnisse, die von Altersgenossen ppe_525.027 innerhalb eines Kulturkreises aus gleichem Lebenszusammenhang ppe_525.028 hervorgebracht werden, diktieren gebieterisch die Zusammenfassung ppe_525.029 des Gleichartigen und Gleichzeitigen, denn so verschieden ppe_525.030 diese Werke und Persönlichkeiten untereinander sein mögen, so ppe_525.031 stellen sie doch im Vergleich mit den Männern und Werken jeder ppe_525.032 andern Periode eine Einheit dar. Der Überblick über die literarische ppe_525.033 Produktionsmasse kann nicht anders Gestalt gewinnen als durch Einordnung ppe_525.034 in die geistigen Bewegungen, durch die Altersgleiche in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/549
Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/549>, abgerufen am 22.11.2024.