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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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[Beginn Spaltensatz]

wenn's denn um meine Augen dämmert. ppe_488.002
und die Welt um mich her und Himmel ppe_488.003
ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt ppe_488.004
einer Geliebten; dann sehn ich ppe_488.005
mich oft und denke: ach könntest du ppe_488.006
das wieder ausdrücken, könntest du ppe_488.007
dem Papier das einhauchen, was so voll, ppe_488.008
so warm in dir lebt, daß es würde der ppe_488.009
Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist ppe_488.010
der Spiegel des unendlichen Gottes.

[Spaltenumbruch] ppe_488.101

und lauschte, ohne zu wissen, wie mir ppe_488.102
geschah -- hast du mich lieb, guter ppe_488.103
Vater im Himmel? fragt' ich dann leise, ppe_488.104
und fühlte seine Antwort so sicher und ppe_488.105
selig am Herzen.

[Ende Spaltensatz]

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Beginnen wir mit dem Satzbau, so sind unter den drei mit "wenn" ppe_488.107
eingeleiteten Bedingungssätzen Goethes die zwei ersten mit mehrfachem ppe_488.108
"und" weitergeführt, ohne zum Abschluß zu gelangen, während ppe_488.109
der dritte die Lösung der Spannung bringt. Deutlich scheidet die ppe_488.110
Dreigliedrigkeit stimmunggebende Landschaft, beseeltes Lebensgefühl ppe_488.111
und versagenden Gestaltungsdrang. Hölderlins Periode ergibt ein ppe_488.112
anderes rhythmisches Bild; ihr gleichmäßigerer Fluß ist durch vierfaches ppe_488.113
"wenn" im Aufgesang schneller emporgeführt, um dann mit ppe_488.114
vierfachem "und" sich zu verbreitern, zu verfließen und abzusinken. ppe_488.115
Nicht der ferne Freund, sondern der immer nahe gute Vater im ppe_488.116
Himmel wird gerufen, und das lösende "dann" ist nicht Höhepunkt, ppe_488.117
sondern abklingende Senkung. Das Zeitverhältnis ist ein verschiedenes: ppe_488.118
bei Goethe ist alles einmalige Gegenwart, die schon hier im ppe_488.119
Augenblick die Ewigkeit erfassen will; bei Hölderlin ist es stetig ppe_488.120
schweifende Erinnerung. Im "Werther" ist die Stimmung des ppe_488.121
frischen Frühlingsmorgens einheitlich festgehalten, während Hyperions ppe_488.122
Landschaftsbild in gleitendem Farbenwechsel sich entwickelt ppe_488.123
vom heiteren Mittagsblau des Himmels über die vom Sinken der ppe_488.124
Sonne vergoldeten Wolken bis zum Aufgehen des friedlichen Abendsterns, ppe_488.125
der die mit heroischen Namen ausgezeichneten anderen Sternbilder ppe_488.126
nach sich ziehen wird und das zur Ruhe gegangene Leben der ppe_488.127
Erde in der ewig mühelosen Ordnung des Äthers sich fortbewegen ppe_488.128
läßt. Bei Goethe führt der Weg zunächst von der großen Umgebung ppe_488.129
zur Kleinwelt; durch das dampfende Tal und die undurchdringliche ppe_488.130
Finsternis des Waldes stehlen sich einzelne Sonnenstrahlen und ppe_488.131
lenken die Wahrnehmung auf die Halme und Gräser am fallenden ppe_488.132
Bache; zwischen ihnen offenbart sich nun erst das Gewimmel der ppe_488.133
Würmchen und Mückchen, deren Kleinleben die wirkende Gegenwart ppe_488.134
des Allmächtigen, Alliebenden und Allerhaltenden gegenständlich ppe_488.135
fühlen läßt. Die Empfindung Hölderlins schwingt sich dagegen ppe_488.136
von der Beobachtung des Einzelnen, der Blumen und der noch ppe_488.137
tröpfelnden Ulmen- und Weidenzweige empor ins Metaphorische und

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Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist ppe_488.010
der Spiegel des unendlichen Gottes.

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und lauschte, ohne zu wissen, wie mir ppe_488.102
geschah — hast du mich lieb, guter ppe_488.103
Vater im Himmel? fragt' ich dann leise, ppe_488.104
und fühlte seine Antwort so sicher und ppe_488.105
selig am Herzen.

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[488/0512] ppe_488.001 wenn's denn um meine Augen dämmert. ppe_488.002 und die Welt um mich her und Himmel ppe_488.003 ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt ppe_488.004 einer Geliebten; dann sehn ich ppe_488.005 mich oft und denke: ach könntest du ppe_488.006 das wieder ausdrücken, könntest du ppe_488.007 dem Papier das einhauchen, was so voll, ppe_488.008 so warm in dir lebt, daß es würde der ppe_488.009 Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist ppe_488.010 der Spiegel des unendlichen Gottes. ppe_488.101 und lauschte, ohne zu wissen, wie mir ppe_488.102 geschah — hast du mich lieb, guter ppe_488.103 Vater im Himmel? fragt' ich dann leise, ppe_488.104 und fühlte seine Antwort so sicher und ppe_488.105 selig am Herzen. ppe_488.106 Beginnen wir mit dem Satzbau, so sind unter den drei mit „wenn“ ppe_488.107 eingeleiteten Bedingungssätzen Goethes die zwei ersten mit mehrfachem ppe_488.108 „und“ weitergeführt, ohne zum Abschluß zu gelangen, während ppe_488.109 der dritte die Lösung der Spannung bringt. Deutlich scheidet die ppe_488.110 Dreigliedrigkeit stimmunggebende Landschaft, beseeltes Lebensgefühl ppe_488.111 und versagenden Gestaltungsdrang. Hölderlins Periode ergibt ein ppe_488.112 anderes rhythmisches Bild; ihr gleichmäßigerer Fluß ist durch vierfaches ppe_488.113 „wenn“ im Aufgesang schneller emporgeführt, um dann mit ppe_488.114 vierfachem „und“ sich zu verbreitern, zu verfließen und abzusinken. ppe_488.115 Nicht der ferne Freund, sondern der immer nahe gute Vater im ppe_488.116 Himmel wird gerufen, und das lösende „dann“ ist nicht Höhepunkt, ppe_488.117 sondern abklingende Senkung. Das Zeitverhältnis ist ein verschiedenes: ppe_488.118 bei Goethe ist alles einmalige Gegenwart, die schon hier im ppe_488.119 Augenblick die Ewigkeit erfassen will; bei Hölderlin ist es stetig ppe_488.120 schweifende Erinnerung. Im „Werther“ ist die Stimmung des ppe_488.121 frischen Frühlingsmorgens einheitlich festgehalten, während Hyperions ppe_488.122 Landschaftsbild in gleitendem Farbenwechsel sich entwickelt ppe_488.123 vom heiteren Mittagsblau des Himmels über die vom Sinken der ppe_488.124 Sonne vergoldeten Wolken bis zum Aufgehen des friedlichen Abendsterns, ppe_488.125 der die mit heroischen Namen ausgezeichneten anderen Sternbilder ppe_488.126 nach sich ziehen wird und das zur Ruhe gegangene Leben der ppe_488.127 Erde in der ewig mühelosen Ordnung des Äthers sich fortbewegen ppe_488.128 läßt. Bei Goethe führt der Weg zunächst von der großen Umgebung ppe_488.129 zur Kleinwelt; durch das dampfende Tal und die undurchdringliche ppe_488.130 Finsternis des Waldes stehlen sich einzelne Sonnenstrahlen und ppe_488.131 lenken die Wahrnehmung auf die Halme und Gräser am fallenden ppe_488.132 Bache; zwischen ihnen offenbart sich nun erst das Gewimmel der ppe_488.133 Würmchen und Mückchen, deren Kleinleben die wirkende Gegenwart ppe_488.134 des Allmächtigen, Alliebenden und Allerhaltenden gegenständlich ppe_488.135 fühlen läßt. Die Empfindung Hölderlins schwingt sich dagegen ppe_488.136 von der Beobachtung des Einzelnen, der Blumen und der noch ppe_488.137 tröpfelnden Ulmen- und Weidenzweige empor ins Metaphorische und

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/512>, abgerufen am 25.11.2024.