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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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geschaffen, aus dem sein Volk neu erstehen konnte. Dante, der ppe_442.002
in seiner Schrift "De vulgari eloquentia" wie in seinen Dichtungen ppe_442.003
zur nationalen Literatursprache den Grund legte, kann als erster ppe_442.004
Schöpfer der italienischen Einheit betrachtet werden. Auch das finnische ppe_442.005
Volksepos "Kalewala" ist durch seine sprachliche Wiederherstellung ppe_442.006
ein Sinnbild des Nationalbewußtseins und der politischen ppe_442.007
Selbständigkeit seines Volkes geworden, und sein Neuschöpfer Lönnrot ppe_442.008
wurde dem legendarischen Lykurg verglichen, der die homerischen ppe_442.009
Gesänge nach Griechenland brachte und die einzelnen Stämme sich ppe_442.010
als Nation fühlen ließ.

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Das stolze Volksbewußtsein solchen Besitzes faßt die Sprache nicht ppe_442.012
als das allgemeine Verständigungsmittel zu jedermanns handen auf, ppe_442.013
sondern als das eigenste Organ der überlegenen Kraft, in der der ppe_442.014
Dichter seine Existenz kund tut. Die Sprache ist die Kunstform, in ppe_442.015
der er nicht für die Dauer eines Augenblicks lebend wirkt, sondern ppe_442.016
in der seine Wirkung dauernd lebt. Sie lebt nicht als eindrucksvolle ppe_442.017
Erinnerung, sondern als stets sich erneuernde Gegenwart. Die sprachlichen ppe_442.018
Gebilde, die sich von dem Dichter abgelöst haben, sind Wirklichkeiten ppe_442.019
geworden und bilden die einzige Erscheinungsform sinnlich ppe_442.020
erfaßbarer Existenz, die von ihm bleibt. Die Sinnlichkeit der ppe_442.021
Sprache, sowohl mit ihrer unmittelbaren klanglichen Wirkung im ppe_442.022
Ton und Rhythmus, als auch des mittelbaren Reichtums der auf die ppe_442.023
Phantasie übertragenen Sinnesreize in Bildern und Vorstellungen, in ppe_442.024
Stimmungen und Gefühlen -- das alles ist gestaltetes Sein.

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"Was bleibet aber, stiften die Dichter." Dies Hölderlin-Wort hat ppe_442.026
Martin Heidegger unter die Leitmotive seiner Erörterung über das ppe_442.027
Wesen der Dichtung gestellt, die mit Würdigung der Sprache als des ppe_442.028
Geschehens, das über die höchsten Möglichkeiten des Menschseins ppe_442.029
verfügt, ihren Anfang nimmt. Dieses gestiftete Dasein ist in seinem ppe_442.030
sinnlichen Wert nur dem ästhetischen Sprachsinn erfaßbar.

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"Wahrsagen" scheint ebenfalls in den Bereich der Sprache zu gehören, ppe_442.032
aber der Nachdruck liegt auf dem ersten Bestandteil des ppe_442.033
Wortes. Der Wahrsager ist richtig zu verstehen aus dem, was er nicht ppe_442.034
ausspricht, sondern in Symbolen andeutet. Was er als Welt erblickt, ppe_442.035
ist Schicksal; was er kündet, ist Fügung; was er enträtselt, ist Sinn ppe_442.036
des Daseins; was er gestaltet, ist kein Spiel freier Willkür, sondern ppe_442.037
inneres Gebot. Während die Sprache das Arbeitsfeld des Lehrers ppe_442.038
ist und den Boden darstellt, in dessen Tiefe jeder Schritt des Dichters ppe_442.039
die eindrücklichen Spuren seines Daseins eingräbt, liegt das Gesichtsfeld ppe_442.040
des Wahrsagers im Gegenüber; sein Seherblick ist gerichtet auf ppe_442.041
die Bilder des Lebens, das ihm zum Problem wird, das er als Ganzes

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/466>, abgerufen am 22.11.2024.