Eh' er singt und eh' er aufhört, ppe_277.005 Muß der Dichter leben. Goethe.
ppe_277.006
1. Grundsätzliches
ppe_277.007 Die Grenze zwischen analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft ppe_277.008 scheint den Begriff des Dichters mitten zu durchschneiden. ppe_277.009 Nicht als ob durch diese Trennungslinie eine Begriffsspaltung einträte ppe_277.010 und die organische Einheit des Dichters in ihrer Totalität, Substanz ppe_277.011 oder Grundauffassung sich veränderte. Aber Sehweise und Richtung ppe_277.012 der Beleuchtung wechseln. Es ist, als ob zwei Hälften gleich den entgegengesetzten ppe_277.013 Phasen des Mondes sich ablösten, wobei die jedesmal ppe_277.014 belichtete Seite nach außen scharf begrenzt ist, während sie innen zu ppe_277.015 einem ungewissen Dunkel hin sich öffnet. Man hat geradezu von ppe_277.016 einer "Antinomie" zwischen Persönlichkeit und Werk in der biographischen ppe_277.017 Darstellung gesprochen; wiederum hat man sich bemüht, ppe_277.018 durch Untertitel wie "Der Mann und das Werk" die beiden einander ppe_277.019 ergänzenden Teile des Ganzen zusammenfassend in Beziehung zu ppe_277.020 setzen. Dabei stellt das Kollektivum "Werk" als Einheit von vielerlei ppe_277.021 eine Synthese dar, während die Einzahl "Mann" nach Analyse verlangt. ppe_277.022 Von anderer Richtung aus gesehen kann es sich aber umgekehrt ppe_277.023 verhalten: ebenso wie die einzelnen Werke Gegenstand der Analyse ppe_277.024 waren, wird im Begriff des Dichters sich alles das synthetisch vereinheitlichen, ppe_277.025 was aus der Einzelbetrachtung der Werke für das Bild ppe_277.026 ihres Schöpfers zu gewinnen war. So sind Analyse und Synthese ppe_277.027 eigentlich nicht zu trennen; sie müssen in ständiger Wechselwirkung ppe_277.028 bleiben, wie es J. Huizinga für die Geschichtswissenschaft formuliert ppe_277.029 hat: "Um die Analyse beginnen zu können, muß im Geist bereits eine ppe_277.030 Synthese vorhanden sein."
ppe_277.031 In der Sehweise einer Dichtergeschichte, wie sie oben (S. 65 f.) ppe_277.032 gefordert wurde, stellt der Einzelne nicht weniger dar als die Summe ppe_277.033 des von ihm Geschaffenen. Oder sogar mehr, insofern das organische ppe_277.034 Ganze der Gestalt die Addition der Teile an Wert übersteigt. Zunächst
ppe_277.001
ZWEITES BUCH: DER DICHTER
ppe_277.002
ERSTER HAUPTTEIL
ppe_277.003
DAS LEBEN
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Eh' er singt und eh' er aufhört, ppe_277.005 Muß der Dichter leben. Goethe.
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1. Grundsätzliches
ppe_277.007 Die Grenze zwischen analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft ppe_277.008 scheint den Begriff des Dichters mitten zu durchschneiden. ppe_277.009 Nicht als ob durch diese Trennungslinie eine Begriffsspaltung einträte ppe_277.010 und die organische Einheit des Dichters in ihrer Totalität, Substanz ppe_277.011 oder Grundauffassung sich veränderte. Aber Sehweise und Richtung ppe_277.012 der Beleuchtung wechseln. Es ist, als ob zwei Hälften gleich den entgegengesetzten ppe_277.013 Phasen des Mondes sich ablösten, wobei die jedesmal ppe_277.014 belichtete Seite nach außen scharf begrenzt ist, während sie innen zu ppe_277.015 einem ungewissen Dunkel hin sich öffnet. Man hat geradezu von ppe_277.016 einer „Antinomie“ zwischen Persönlichkeit und Werk in der biographischen ppe_277.017 Darstellung gesprochen; wiederum hat man sich bemüht, ppe_277.018 durch Untertitel wie „Der Mann und das Werk“ die beiden einander ppe_277.019 ergänzenden Teile des Ganzen zusammenfassend in Beziehung zu ppe_277.020 setzen. Dabei stellt das Kollektivum „Werk“ als Einheit von vielerlei ppe_277.021 eine Synthese dar, während die Einzahl „Mann“ nach Analyse verlangt. ppe_277.022 Von anderer Richtung aus gesehen kann es sich aber umgekehrt ppe_277.023 verhalten: ebenso wie die einzelnen Werke Gegenstand der Analyse ppe_277.024 waren, wird im Begriff des Dichters sich alles das synthetisch vereinheitlichen, ppe_277.025 was aus der Einzelbetrachtung der Werke für das Bild ppe_277.026 ihres Schöpfers zu gewinnen war. So sind Analyse und Synthese ppe_277.027 eigentlich nicht zu trennen; sie müssen in ständiger Wechselwirkung ppe_277.028 bleiben, wie es J. Huizinga für die Geschichtswissenschaft formuliert ppe_277.029 hat: „Um die Analyse beginnen zu können, muß im Geist bereits eine ppe_277.030 Synthese vorhanden sein.“
ppe_277.031 In der Sehweise einer Dichtergeschichte, wie sie oben (S. 65 f.) ppe_277.032 gefordert wurde, stellt der Einzelne nicht weniger dar als die Summe ppe_277.033 des von ihm Geschaffenen. Oder sogar mehr, insofern das organische ppe_277.034 Ganze der Gestalt die Addition der Teile an Wert übersteigt. Zunächst
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ZWEITES BUCH: DER DICHTER ppe_277.002
ERSTER HAUPTTEIL ppe_277.003
DAS LEBEN ppe_277.004
Eh' er singt und eh' er aufhört, ppe_277.005
Muß der Dichter leben. Goethe.
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1. Grundsätzliches ppe_277.007
Die Grenze zwischen analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft ppe_277.008
scheint den Begriff des Dichters mitten zu durchschneiden. ppe_277.009
Nicht als ob durch diese Trennungslinie eine Begriffsspaltung einträte ppe_277.010
und die organische Einheit des Dichters in ihrer Totalität, Substanz ppe_277.011
oder Grundauffassung sich veränderte. Aber Sehweise und Richtung ppe_277.012
der Beleuchtung wechseln. Es ist, als ob zwei Hälften gleich den entgegengesetzten ppe_277.013
Phasen des Mondes sich ablösten, wobei die jedesmal ppe_277.014
belichtete Seite nach außen scharf begrenzt ist, während sie innen zu ppe_277.015
einem ungewissen Dunkel hin sich öffnet. Man hat geradezu von ppe_277.016
einer „Antinomie“ zwischen Persönlichkeit und Werk in der biographischen ppe_277.017
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durch Untertitel wie „Der Mann und das Werk“ die beiden einander ppe_277.019
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Von anderer Richtung aus gesehen kann es sich aber umgekehrt ppe_277.023
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ihres Schöpfers zu gewinnen war. So sind Analyse und Synthese ppe_277.027
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hat: „Um die Analyse beginnen zu können, muß im Geist bereits eine ppe_277.030
Synthese vorhanden sein.“
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In der Sehweise einer Dichtergeschichte, wie sie oben (S. 65 f.) ppe_277.032
gefordert wurde, stellt der Einzelne nicht weniger dar als die Summe ppe_277.033
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/301>, abgerufen am 22.11.2024.
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