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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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und Charaktere erfassen, Affekte und Sehnsüchte durchbeben, Handlungen ppe_256.002
in ihrer Folgerichtigkeit und ihren notwendigen Folgen ppe_256.003
erkennen, Vordeutungen merken und Spannungen spüren und in allem ppe_256.004
den Sinn des Ganzen erfassen, des Zusammenhanges aller Glieder ppe_256.005
bewußt sein und die Begegnung mit dem Geiste suchen, aus dem das ppe_256.006
Werk hervorgegangen ist. Und schließlich bedarf es nicht nur sprachlichen ppe_256.007
Feingefühls, um Stil und Form der Dichtung persönlich zu ppe_256.008
begreifen, sondern eine dem Dichter gewachsene und ihm sich angleichende ppe_256.009
Sprachkunst allein kann die Eindrücke zusammenfassen, die ppe_256.010
sein Werk erweckt. Denn literarisches Verstehen ist letzten Endes ppe_256.011
nicht Sache eines Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, deren Vorsprecher ppe_256.012
der Besprechende ist. Der Dolmetscher einer großen Dichtung ppe_256.013
aber steht mit seiner Gemeinde nicht vor dem unmittelbaren ppe_256.014
sinnlichen Eindruck des sichtbaren oder hörbaren Werkes selbst, wie ppe_256.015
im Museum oder im Konzertsaal, sondern, weil das Wesen der Dichtung ppe_256.016
Phantasiesinnlichkeit ist, muß er sie mit Phantasie begreifen; er ppe_256.017
muß sie als Geist erscheinen lassen und ihr dazu die notwendige Atmosphäre ppe_256.018
schaffen. Besprechen ist Beschwören, ein Heraufbeschwören ppe_256.019
des Geistes, der in dem Werk verborgen ist und alle Teile zusammenhält. ppe_256.020
Antwortet der Geist nicht dem an ihn ergangenen Ruf, so ist er ppe_256.021
entweder nicht vorhanden, oder der Berufende versteht nicht die in ppe_256.022
Anwendung zu bringende Zauberformel. Es ist, wie der Romantiker ppe_256.023
Friedrich Schlegel in Anklang an Jakob Böhme, an Schelling und an das ppe_256.024
Faust-Fragment ausgesprochen hat, eine Art magische Handlung, die ppe_256.025
hier zu verrichten ist: "Wer entsiegelt das Zauberbuch der Kunst und ppe_256.026
befreit den verschlossenen heiligen Geist? Nur der verwandte Geist."

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Man kann danach sagen, daß der Deuter der Dichtung ein versetzter ppe_256.028
Dichter sein sollte. Kein Eigenschöpfer, dessen Geist eine ihm gehörige ppe_256.029
Welt aufbaut, sondern vielleicht ein gehemmter Dichter, der ppe_256.030
mangelnde Schöpfungskraft durch Einfühlung ersetzt und seinen ppe_256.031
Lebensdrang in einem zweiten Leben erfüllt findet, gleich dem Übersetzer, ppe_256.032
der in Mitempfindung und Nachgestaltung fremde dichterische ppe_256.033
Welten sich anzueignen vermag, wenn er ihre Sprache versteht, oder ppe_256.034
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Leben Deutung gibt, indem er es sinnvoll erfühlend nachlebt und ppe_256.036
nachspricht. Die Hemmungen eigenen Schaffens begünstigen das Nachschaffen: ppe_256.037
sie lenken verborgene dichterische Gaben in die Bahn des ppe_256.038
Verstehens; sie verweilen bei beobachtendem Erkennen und gelangen ppe_256.039
in angewandtem Kunstsinn auf die Wege der Wissenschaft, die nun ppe_256.040
der Sinndeutung ihr Ziel setzt und das Erkannte Begriff werden läßt. ppe_256.041
So wird auch beim Verstehen des Kunstwerkes Tatsache, was Hans

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/280>, abgerufen am 25.11.2024.