ppe_251.001 eines Textes sollte dann zustandekommen, "wenn in unserer Seele ppe_251.002 eben die Vorstellungsassoziationen erzeugt werden, welche der Urheber ppe_251.003 desselben in der Seele derjenigen hat hervorrufen wollen, für ppe_251.004 die er bestimmt ist".
ppe_251.005 Dagegen erhebt sich als erster Einwand die Frage, ob ein Werk der ppe_251.006 Selbstbefreiung, das aus Lebenskrisen und innerem Zwang hervorbrach, ppe_251.007 überhaupt auf ein bestimmtes Publikum berechnet gewesen ppe_251.008 sein muß. Stifter sagt im "Nachsommer": "Der Künstler macht sein ppe_251.009 Werk, wie die Blume blüht, wenn sie auch in der Wüste ist und nie ppe_251.010 ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar ppe_251.011 nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht." Wie ppe_251.012 mancher, der zu seinem eigenen Behagen schrieb, mag nicht anders ppe_251.013 gedacht haben als Wilhelm Raabe, der den Erzähler der "Alten Nester" ppe_251.014 Gott dafür danken läßt, daß er nicht weiß, an welche Leser sich das ppe_251.015 eben Niedergeschriebene wenden wird. Andere mögen bei der Niederschrift ppe_251.016 nur an einen einzigen Leser gedacht haben. Aber auch, ppe_251.017 wenn es ein bestimmter Kreis war, so ist zu fragen, wie zunächst die ppe_251.018 Gesellschaft, der ein Text zugedacht war, und wie danach ihr Geist ppe_251.019 festzustellen sei. Durch Widmungen oder Berichte ist solcher Leserkreis ppe_251.020 unter Umständen zu ermitteln, aber damit ist immer noch nicht ppe_251.021 erfaßbar, welches seine Vorstellungsassoziationen waren. Selbst dann, ppe_251.022 wenn der ursprüngliche Widerhall, von dem wir annehmen, daß er ppe_251.023 beabsichtigt war, in Urteilen kundgegeben ist, bleibt es höchst ungewiß, ppe_251.024 ob wir heute die gleichen Assoziationen als Eindruck des Textes zu ppe_251.025 erleben imstande sind.
ppe_251.026 Der von Paul geschilderte Vorgang kann sich eigentlich nur bei ppe_251.027 Verständigung durch das gesprochene Wort von Mensch zu Mensch ppe_251.028 herstellen, wenn räumliche und zeitliche Gegenwart durch keinerlei ppe_251.029 Trennung behindert und der Sprachgebrauch gleichgestimmt ist. Ohne ppe_251.030 solchen Kontakt ist völlige Identität der Vorstellungsassoziationen ppe_251.031 unerreichbar. Auf welche Weise dürfte es möglich sein, gegenüber ppe_251.032 Dichtungen, die für die ritterliche Gesellschaft des Mittelalters bestimmt ppe_251.033 waren, wie Minnesang und höfische Epik, ohne weiteres die ppe_251.034 entsprechende Seelenhaltung zu finden, durch die das Verstehen verbürgt ppe_251.035 sein soll? Nicht viel anders ginge es mit den gesellschaftlichen ppe_251.036 Idealen des Absolutismus, wie sie in der klassischen Tragödie Frankreichs ppe_251.037 gepflegt wurden. Und denken wir an Dantes "Göttliche Komödie" ppe_251.038 so ist das ganze kosmische System, das sich in den drei Reichen ppe_251.039 des Inferno, Purgatorio und Paradiso aufbaut, nur aus den Vorstellungen ppe_251.040 mittelalterlicher Glaubenswelt zu verstehen. Das religiöse, naturwissenschaftliche, ppe_251.041 politische, gesellschaftliche und ethische Weltbild
ppe_251.001 eines Textes sollte dann zustandekommen, „wenn in unserer Seele ppe_251.002 eben die Vorstellungsassoziationen erzeugt werden, welche der Urheber ppe_251.003 desselben in der Seele derjenigen hat hervorrufen wollen, für ppe_251.004 die er bestimmt ist“.
ppe_251.005 Dagegen erhebt sich als erster Einwand die Frage, ob ein Werk der ppe_251.006 Selbstbefreiung, das aus Lebenskrisen und innerem Zwang hervorbrach, ppe_251.007 überhaupt auf ein bestimmtes Publikum berechnet gewesen ppe_251.008 sein muß. Stifter sagt im „Nachsommer“: „Der Künstler macht sein ppe_251.009 Werk, wie die Blume blüht, wenn sie auch in der Wüste ist und nie ppe_251.010 ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar ppe_251.011 nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht.“ Wie ppe_251.012 mancher, der zu seinem eigenen Behagen schrieb, mag nicht anders ppe_251.013 gedacht haben als Wilhelm Raabe, der den Erzähler der „Alten Nester“ ppe_251.014 Gott dafür danken läßt, daß er nicht weiß, an welche Leser sich das ppe_251.015 eben Niedergeschriebene wenden wird. Andere mögen bei der Niederschrift ppe_251.016 nur an einen einzigen Leser gedacht haben. Aber auch, ppe_251.017 wenn es ein bestimmter Kreis war, so ist zu fragen, wie zunächst die ppe_251.018 Gesellschaft, der ein Text zugedacht war, und wie danach ihr Geist ppe_251.019 festzustellen sei. Durch Widmungen oder Berichte ist solcher Leserkreis ppe_251.020 unter Umständen zu ermitteln, aber damit ist immer noch nicht ppe_251.021 erfaßbar, welches seine Vorstellungsassoziationen waren. Selbst dann, ppe_251.022 wenn der ursprüngliche Widerhall, von dem wir annehmen, daß er ppe_251.023 beabsichtigt war, in Urteilen kundgegeben ist, bleibt es höchst ungewiß, ppe_251.024 ob wir heute die gleichen Assoziationen als Eindruck des Textes zu ppe_251.025 erleben imstande sind.
ppe_251.026 Der von Paul geschilderte Vorgang kann sich eigentlich nur bei ppe_251.027 Verständigung durch das gesprochene Wort von Mensch zu Mensch ppe_251.028 herstellen, wenn räumliche und zeitliche Gegenwart durch keinerlei ppe_251.029 Trennung behindert und der Sprachgebrauch gleichgestimmt ist. Ohne ppe_251.030 solchen Kontakt ist völlige Identität der Vorstellungsassoziationen ppe_251.031 unerreichbar. Auf welche Weise dürfte es möglich sein, gegenüber ppe_251.032 Dichtungen, die für die ritterliche Gesellschaft des Mittelalters bestimmt ppe_251.033 waren, wie Minnesang und höfische Epik, ohne weiteres die ppe_251.034 entsprechende Seelenhaltung zu finden, durch die das Verstehen verbürgt ppe_251.035 sein soll? Nicht viel anders ginge es mit den gesellschaftlichen ppe_251.036 Idealen des Absolutismus, wie sie in der klassischen Tragödie Frankreichs ppe_251.037 gepflegt wurden. Und denken wir an Dantes „Göttliche Komödie“ ppe_251.038 so ist das ganze kosmische System, das sich in den drei Reichen ppe_251.039 des Inferno, Purgatorio und Paradiso aufbaut, nur aus den Vorstellungen ppe_251.040 mittelalterlicher Glaubenswelt zu verstehen. Das religiöse, naturwissenschaftliche, ppe_251.041 politische, gesellschaftliche und ethische Weltbild
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/275>, abgerufen am 25.11.2024.
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