Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

Bild:
<< vorherige Seite

ppe_226.001
"Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden ppe_226.002
der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom ppe_226.003
Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr ppe_226.004
auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt ppe_226.005
waren, das Mädchen die Türe und tritt ein."

ppe_226.006
Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung ppe_226.007
hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich ppe_226.008
an dem Gedichtanfang:

ppe_226.009
Hinter blühenden Apfelbaumzweigen ppe_226.010
steigt der Mond auf.
ppe_226.011

Es ist richtig, daß die logische Wortstellung "Der Mond steigt hinter ppe_226.012
blühenden Apfelbaumzweigen auf" reine Prosa wäre, wenn auch nicht ppe_226.013
dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl ppe_226.014
bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar ppe_226.015
mit dem Subjekt beginnen:

ppe_226.016
Der Mond ist aufgegangen ppe_226.017
Der Mond steht hinter den Bergen.
ppe_226.018

Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur ppe_226.019
im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz ppe_226.020
der Anrede:

ppe_226.021
Füllest wieder Busch und Tal.

ppe_226.022
Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren ppe_226.023
Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet ppe_226.024
nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann ppe_226.025
Pauls "Prinzipien der Sprachwissenschaft" aufgezählt werden. ppe_226.026
Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung "Vom Wesen ppe_226.027
der Syntax" diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die ppe_226.028
musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische ppe_226.029
Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch ppe_226.030
eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht ppe_226.031
zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie ppe_226.032
und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis ppe_226.033
zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt ppe_226.034
wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und ppe_226.035
Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu ppe_226.036
erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar ppe_226.037
wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt;

ppe_226.001
„Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden ppe_226.002
der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom ppe_226.003
Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr ppe_226.004
auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt ppe_226.005
waren, das Mädchen die Türe und tritt ein.“

ppe_226.006
Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung ppe_226.007
hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich ppe_226.008
an dem Gedichtanfang:

ppe_226.009
Hinter blühenden Apfelbaumzweigen ppe_226.010
steigt der Mond auf.
ppe_226.011

Es ist richtig, daß die logische Wortstellung „Der Mond steigt hinter ppe_226.012
blühenden Apfelbaumzweigen auf“ reine Prosa wäre, wenn auch nicht ppe_226.013
dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl ppe_226.014
bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar ppe_226.015
mit dem Subjekt beginnen:

ppe_226.016
Der Mond ist aufgegangen ppe_226.017
Der Mond steht hinter den Bergen.
ppe_226.018

Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur ppe_226.019
im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz ppe_226.020
der Anrede:

ppe_226.021
Füllest wieder Busch und Tal.

ppe_226.022
Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren ppe_226.023
Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet ppe_226.024
nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann ppe_226.025
Pauls „Prinzipien der Sprachwissenschaft“ aufgezählt werden. ppe_226.026
Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung „Vom Wesen ppe_226.027
der Syntax“ diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die ppe_226.028
musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische ppe_226.029
Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch ppe_226.030
eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht ppe_226.031
zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie ppe_226.032
und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis ppe_226.033
zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt ppe_226.034
wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und ppe_226.035
Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu ppe_226.036
erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar ppe_226.037
wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0250" n="226"/>
              <p>
                <lb n="ppe_226.001"/> <hi rendition="#aq">&#x201E;Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden <lb n="ppe_226.002"/>
der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom <lb n="ppe_226.003"/>
Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr <lb n="ppe_226.004"/>
auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt <lb n="ppe_226.005"/>
waren, das Mädchen die Türe und tritt ein.&#x201C;</hi> </p>
              <p><lb n="ppe_226.006"/>
Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung <lb n="ppe_226.007"/>
hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich <lb n="ppe_226.008"/>
an dem Gedichtanfang:</p>
              <lb n="ppe_226.009"/>
              <lg>
                <l> <hi rendition="#aq">Hinter blühenden Apfelbaumzweigen <lb n="ppe_226.010"/>
steigt der Mond auf.</hi> </l>
              </lg>
              <lb n="ppe_226.011"/>
              <p>Es ist richtig, daß die logische Wortstellung &#x201E;Der Mond steigt hinter <lb n="ppe_226.012"/>
blühenden Apfelbaumzweigen auf&#x201C; reine Prosa wäre, wenn auch nicht <lb n="ppe_226.013"/>
dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl <lb n="ppe_226.014"/>
bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar <lb n="ppe_226.015"/>
mit dem Subjekt beginnen:</p>
              <lb n="ppe_226.016"/>
              <lg>
                <l> <hi rendition="#aq">Der Mond ist aufgegangen <lb n="ppe_226.017"/>
Der Mond steht hinter den Bergen.</hi> </l>
              </lg>
              <lb n="ppe_226.018"/>
              <p>Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur <lb n="ppe_226.019"/>
im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz <lb n="ppe_226.020"/>
der Anrede:</p>
              <lb n="ppe_226.021"/>
              <lg>
                <l> <hi rendition="#aq">Füllest wieder Busch und Tal.</hi> </l>
              </lg>
              <p><lb n="ppe_226.022"/>
Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren <lb n="ppe_226.023"/>
Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet <lb n="ppe_226.024"/>
nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann <lb n="ppe_226.025"/>
Pauls &#x201E;Prinzipien der Sprachwissenschaft&#x201C; aufgezählt werden. <lb n="ppe_226.026"/>
Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung &#x201E;Vom Wesen <lb n="ppe_226.027"/>
der Syntax&#x201C; diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die <lb n="ppe_226.028"/>
musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische <lb n="ppe_226.029"/>
Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch <lb n="ppe_226.030"/>
eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht <lb n="ppe_226.031"/>
zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie <lb n="ppe_226.032"/>
und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis <lb n="ppe_226.033"/>
zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt <lb n="ppe_226.034"/>
wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und <lb n="ppe_226.035"/>
Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu <lb n="ppe_226.036"/>
erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar <lb n="ppe_226.037"/>
wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt;
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[226/0250] ppe_226.001 „Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden ppe_226.002 der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom ppe_226.003 Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr ppe_226.004 auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt ppe_226.005 waren, das Mädchen die Türe und tritt ein.“ ppe_226.006 Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung ppe_226.007 hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich ppe_226.008 an dem Gedichtanfang: ppe_226.009 Hinter blühenden Apfelbaumzweigen ppe_226.010 steigt der Mond auf. ppe_226.011 Es ist richtig, daß die logische Wortstellung „Der Mond steigt hinter ppe_226.012 blühenden Apfelbaumzweigen auf“ reine Prosa wäre, wenn auch nicht ppe_226.013 dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl ppe_226.014 bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar ppe_226.015 mit dem Subjekt beginnen: ppe_226.016 Der Mond ist aufgegangen ppe_226.017 Der Mond steht hinter den Bergen. ppe_226.018 Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur ppe_226.019 im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz ppe_226.020 der Anrede: ppe_226.021 Füllest wieder Busch und Tal. ppe_226.022 Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren ppe_226.023 Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet ppe_226.024 nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann ppe_226.025 Pauls „Prinzipien der Sprachwissenschaft“ aufgezählt werden. ppe_226.026 Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung „Vom Wesen ppe_226.027 der Syntax“ diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die ppe_226.028 musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische ppe_226.029 Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch ppe_226.030 eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht ppe_226.031 zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie ppe_226.032 und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis ppe_226.033 zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt ppe_226.034 wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und ppe_226.035 Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu ppe_226.036 erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar ppe_226.037 wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/250
Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/250>, abgerufen am 25.11.2024.