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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Stendhal, Balzac und Flaubert jene desillusionierende, zerfleischende ppe_162.002
psychologische Selbstzerfaserung, die Lugowski jüngst als "Antimärchenroman" ppe_162.003
charakterisiert hat und zu der man vielleicht die ppe_162.004
Anfänge der französischen Experimentalpsychologie (Massias, Bautain) ppe_162.005
in Parallele setzen darf. Der roman experimental Zolas führte ppe_162.006
zu einer scheinbaren Nachahmung wissenschaftlicher Methoden; die ppe_162.007
Milieulehre tat das ihrige, um die willenlose Abhängigkeit des Seelenlebens ppe_162.008
von den äußeren Gegebenheiten zum Dogma werden zu lassen.

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Hatte in Deutschland schon Otto Ludwig im Gegensatz zur spekulativen ppe_162.010
Philosophie eine exakte psychologisierende Richtung eingeschlagen, ppe_162.011
die seinen Erzählungen besser zugute kam als seinen Dramen, ppe_162.012
so hat später Theodor Fontane mehr und mehr sich von der äußeren ppe_162.013
Gesellschaftsschilderung zur Seelendarstellung gewendet; unter seinen ppe_162.014
Händen verfeinerten sich deren Mittel zusehends, so daß der Verfasser ppe_162.015
von "Effi Briest" rühmen durfte, sie sei "fast wie mit dem ppe_162.016
Psychographen geschrieben". Alle rational faßbaren Seelenvorgänge ppe_162.017
sind durch zarte Andeutungen in Wort und Gebärde sichtbar gemacht. ppe_162.018
Im neuen Jahrhundert aber steigt die wissenschaftliche Psychologie ppe_162.019
wieder in die Bereiche des Unbewußten und Unterbewußten hinab; ppe_162.020
das irrationale Traumleben wird, wenn auch in anderer Weise als ppe_162.021
bei den Romantikern, wieder zur aufschlußgebenden Quelle innerlichster ppe_162.022
Erlebnisoffenbarung, und die dichterische Seelenführung folgt ppe_162.023
aufs neue traumhaften Sprüngen und Wandlungen; psychoanalytische ppe_162.024
und individual-psychologische Richtungen der Wissenschaft haben ppe_162.025
ihre unverkennbaren Spuren in der Erzählungskunst aller Länder ppe_162.026
(Kafka, Hesse, Lawrence, Pirandello) hinterlassen. Man kann also ppe_162.027
sagen, daß die Analyse, wenn sie sich der Psychologie eines dichterischen ppe_162.028
Werkes zuwendet, durch den Blick auf den Stand der gleichzeitigen ppe_162.029
wissenschaftlichen Seelenauffassung gefördert werden kann, ppe_162.030
gleichviel ob der Verfasser einem ausgesprochenen Studium der wissenschaftlichen ppe_162.031
Psychologie oblag oder nicht.

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b) Charaktere und Vorbilder

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Die charakterologischen Systeme sind erst später zu wissenschaftlicher ppe_162.034
Ausbildung gelangt und haben selbst in der neueren Zeit ppe_162.035
weniger Bedeutung für die Dichtung gewonnen. Sie bieten ihr kaum ppe_162.036
eine Stütze; denn die visionäre Konzeption eines geschlossenen ppe_162.037
Charakters kommt als Einheit von sprechender Physiognomie, Bewegung, ppe_162.038
Redeweise, Leidenschaft und Denkart viel schneller zustande ppe_162.039
als die sorgfältig abgepaßte Verkettung psychologischer Motive.

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/186>, abgerufen am 22.11.2024.