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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Hat der ältere Philologe in der Regel einen Text erst neu zu ppe_088.002
schaffen, während dessen einstmaliges Werden im Dunkel bleibt, so ppe_088.003
ist der neuere in der glücklicheren Lage, dieses Werden unmittelbar ppe_088.004
zu erfassen; er hat im allgemeinen das Entstehen und die Weiterbildung ppe_088.005
eines Textes als Vorgang, der sich ohne sein Zutun im Licht ppe_088.006
der Öffentlichkeit abspielt, beobachtend zu verfolgen. Trotzdem bedeutet ppe_088.007
das, was hier als Schaffen bezeichnet ist, eine mehr negative ppe_088.008
Haltung, indem die ältere Textkritik sich hauptsächlich auf Erkennung ppe_088.009
und Ausschaltung von Fehlern richtet, während die beobachtende ppe_088.010
neuere Textkritik, die ihr Augenmerk hauptsächlich auf Verbesserungen ppe_088.011
einzustellen hat, mehr bejahenden Charakter besitzt.

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Der Apparat an Lesarten, der der wissenschaftlichen Ausgabe eines ppe_088.013
Textes beigefügt wird, dient bei der älteren Philologie im wesentlichen ppe_088.014
der Rechtfertigung des Verfahrens, das einer Kritik der Kritik ppe_088.015
unterworfen ist, während beim Werk der neueren Literatur der Benutzer ppe_088.016
instand gesetzt wird, nicht nur die kritische Arbeit, sondern ppe_088.017
vor allem das Werden des Textes selbst Schritt für Schritt mitzuerleben. ppe_088.018
Das kann ein Genuß sein und eine Schulung für sprachkünstlerisches ppe_088.019
Empfinden. Schon Goethe hat in diesem Sinne zu einer ppe_088.020
Vergleichung der verschiedenen Ausgaben Wielands aufgefordert und ppe_088.021
daran die Behauptung geschlossen, "daß ein verständiger, fleißiger ppe_088.022
Literator ... allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet ppe_088.023
zum Besseren arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des ppe_088.024
Geschmacks würde entwickeln können". Er selbst hat im gleichen ppe_088.025
Sinne eigene Werke, die er als Marksteine seiner Entwicklung auffassen ppe_088.026
mußte (Götz von Berlichingen, Iphigenie) in verschiedenen ppe_088.027
Fassungen seiner Gesamtausgabe einverleibt.

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Der Lesartenapparat eines neueren Literaturwerkes, das viele Veränderungen ppe_088.029
durchlaufen hat, erspart die selbständige Vergleichung der ppe_088.030
verschiedenen Texte. Dem Zweck der Stilbeobachtung ist es zuwider, ppe_088.031
wenn dabei Zeile für Zeile jede Abweichung der Schriftzeichen gebucht ppe_088.032
wird, wie es die Rechtfertigung der Textherstellung verlangt. Dafür ppe_088.033
genügt es, wenn zunächst die einzelnen Drucke in ihrem Wert und ppe_088.034
ihren Eigenarten durch Belege charakterisiert und die eigenen Emendationen ppe_088.035
angefügt werden. Die Hauptsache aber bleibt der Überblick ppe_088.036
über die Entwicklungstendenzen des Textes, und dieser Zweck wäre ppe_088.037
am besten erfüllt, wenn das Beobachtungsmaterial nach stilistischen ppe_088.038
und sachlichen Kategorien, die in den Umarbeitungen des Dichters ppe_088.039
zu erkennen sind, geordnet würde. Daß es nicht geschieht, läßt die ppe_088.040
Lesartenapparate der neueren Literaturgeschichte oft so steril erscheinen ppe_088.041
und zeigt, daß man hier, ohne die Vorteile der andersartigen

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neuere Textkritik, die ihr Augenmerk hauptsächlich auf Verbesserungen ppe_088.011
einzustellen hat, mehr bejahenden Charakter besitzt.

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Der Apparat an Lesarten, der der wissenschaftlichen Ausgabe eines ppe_088.013
Textes beigefügt wird, dient bei der älteren Philologie im wesentlichen ppe_088.014
der Rechtfertigung des Verfahrens, das einer Kritik der Kritik ppe_088.015
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vor allem das Werden des Textes selbst Schritt für Schritt mitzuerleben. ppe_088.018
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Fassungen seiner Gesamtausgabe einverleibt.

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Der Lesartenapparat eines neueren Literaturwerkes, das viele Veränderungen ppe_088.029
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verschiedenen Texte. Dem Zweck der Stilbeobachtung ist es zuwider, ppe_088.031
wenn dabei Zeile für Zeile jede Abweichung der Schriftzeichen gebucht ppe_088.032
wird, wie es die Rechtfertigung der Textherstellung verlangt. Dafür ppe_088.033
genügt es, wenn zunächst die einzelnen Drucke in ihrem Wert und ppe_088.034
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über die Entwicklungstendenzen des Textes, und dieser Zweck wäre ppe_088.037
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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/112>, abgerufen am 24.11.2024.