Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

aufzuzeichnen, was sie gelernt -- wodurch sie glaub-
ten, ihr Brod verdienen zu können -- und denn,
wodurch sie unglücklich geworden -- wie stark ihre
Fehler in ihrem Land und in ihrem Dorf eingeris-
sen -- was und wer daran schuldig -- wie sie
glaubten, daß diesen Fehlern am Besten gesteuert
werden könnte -- ob sie glaubten, wenn sie in der
Freyheit wären, selber etwas dazu beytragen zu
können -- und überhaupt, womit sie im Land et-
was nüzliches anzufangen sich im Stand glaubten
-- und endlich, ob sie nicht gern in der Gefan-
genschaft selber sich anstrengen, und etwas lernen
wollten, das sie in Stand setzen könnte, mit Nutzen
für sich selber und für ihren Nebenmenschen in der
Welt zu leben? Sie fielen fast vor ihm auf die
Knie, jammerten, daß sie das Unmögliche thun
wollten, diesem Elend zu entkommen. Ihrer viele
sagten, sie müßten an Leib und Seele fast verfau-
len, und die Leute seyen Kinder von Unschuld,
wann sie in diese Oerter hineingebracht werden,
gegen den Zustand, in welchem sie sich befinden,
wann sie wieder herauskommen.

Er war am dritten Abend mit der Geschichte
und Aussage dieser Leute fertig; eben so der Pfar-
rer mit der Beschreibung des Zustands von 70
Kindern, die in diesem Hause an Krätze, Blässe,
Dummheit und Unanstelligkeit bewiesen, daß ihre

aufzuzeichnen, was ſie gelernt — wodurch ſie glaub-
ten, ihr Brod verdienen zu koͤnnen — und denn,
wodurch ſie ungluͤcklich geworden — wie ſtark ihre
Fehler in ihrem Land und in ihrem Dorf eingeriſ-
ſen — was und wer daran ſchuldig — wie ſie
glaubten, daß dieſen Fehlern am Beſten geſteuert
werden koͤnnte — ob ſie glaubten, wenn ſie in der
Freyheit waͤren, ſelber etwas dazu beytragen zu
koͤnnen — und uͤberhaupt, womit ſie im Land et-
was nuͤzliches anzufangen ſich im Stand glaubten
— und endlich, ob ſie nicht gern in der Gefan-
genſchaft ſelber ſich anſtrengen, und etwas lernen
wollten, das ſie in Stand ſetzen koͤnnte, mit Nutzen
fuͤr ſich ſelber und fuͤr ihren Nebenmenſchen in der
Welt zu leben? Sie fielen faſt vor ihm auf die
Knie, jammerten, daß ſie das Unmoͤgliche thun
wollten, dieſem Elend zu entkommen. Ihrer viele
ſagten, ſie muͤßten an Leib und Seele faſt verfau-
len, und die Leute ſeyen Kinder von Unſchuld,
wann ſie in dieſe Oerter hineingebracht werden,
gegen den Zuſtand, in welchem ſie ſich befinden,
wann ſie wieder herauskommen.

Er war am dritten Abend mit der Geſchichte
und Ausſage dieſer Leute fertig; eben ſo der Pfar-
rer mit der Beſchreibung des Zuſtands von 70
Kindern, die in dieſem Hauſe an Kraͤtze, Blaͤſſe,
Dummheit und Unanſtelligkeit bewieſen, daß ihre

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0500" n="482"/>
aufzuzeichnen, was &#x017F;ie gelernt &#x2014; wodurch &#x017F;ie glaub-<lb/>
ten, ihr Brod verdienen zu ko&#x0364;nnen &#x2014; und denn,<lb/>
wodurch &#x017F;ie unglu&#x0364;cklich geworden &#x2014; wie &#x017F;tark ihre<lb/>
Fehler in ihrem Land und in ihrem Dorf eingeri&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en &#x2014; was und wer daran &#x017F;chuldig &#x2014; wie &#x017F;ie<lb/>
glaubten, daß die&#x017F;en Fehlern am Be&#x017F;ten ge&#x017F;teuert<lb/>
werden ko&#x0364;nnte &#x2014; ob &#x017F;ie glaubten, wenn &#x017F;ie in der<lb/>
Freyheit wa&#x0364;ren, &#x017F;elber etwas dazu beytragen zu<lb/>
ko&#x0364;nnen &#x2014; und u&#x0364;berhaupt, womit &#x017F;ie im Land et-<lb/>
was nu&#x0364;zliches anzufangen &#x017F;ich im Stand glaubten<lb/>
&#x2014; und endlich, ob &#x017F;ie nicht gern in der Gefan-<lb/>
gen&#x017F;chaft &#x017F;elber &#x017F;ich an&#x017F;trengen, und etwas lernen<lb/>
wollten, das &#x017F;ie in Stand &#x017F;etzen ko&#x0364;nnte, mit Nutzen<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elber und fu&#x0364;r ihren Nebenmen&#x017F;chen in der<lb/>
Welt zu leben? Sie fielen fa&#x017F;t vor ihm auf die<lb/>
Knie, jammerten, daß &#x017F;ie das Unmo&#x0364;gliche thun<lb/>
wollten, die&#x017F;em Elend zu entkommen. Ihrer viele<lb/>
&#x017F;agten, &#x017F;ie mu&#x0364;ßten an Leib und Seele fa&#x017F;t verfau-<lb/>
len, und die Leute &#x017F;eyen Kinder von Un&#x017F;chuld,<lb/>
wann &#x017F;ie in die&#x017F;e Oerter hineingebracht werden,<lb/>
gegen den Zu&#x017F;tand, in welchem &#x017F;ie &#x017F;ich befinden,<lb/>
wann &#x017F;ie wieder herauskommen.</p><lb/>
        <p>Er war am dritten Abend mit der Ge&#x017F;chichte<lb/>
und Aus&#x017F;age die&#x017F;er Leute fertig; eben &#x017F;o der Pfar-<lb/>
rer mit der Be&#x017F;chreibung des Zu&#x017F;tands von 70<lb/>
Kindern, die in die&#x017F;em Hau&#x017F;e an Kra&#x0364;tze, Bla&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
Dummheit und Unan&#x017F;telligkeit bewie&#x017F;en, daß ihre<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[482/0500] aufzuzeichnen, was ſie gelernt — wodurch ſie glaub- ten, ihr Brod verdienen zu koͤnnen — und denn, wodurch ſie ungluͤcklich geworden — wie ſtark ihre Fehler in ihrem Land und in ihrem Dorf eingeriſ- ſen — was und wer daran ſchuldig — wie ſie glaubten, daß dieſen Fehlern am Beſten geſteuert werden koͤnnte — ob ſie glaubten, wenn ſie in der Freyheit waͤren, ſelber etwas dazu beytragen zu koͤnnen — und uͤberhaupt, womit ſie im Land et- was nuͤzliches anzufangen ſich im Stand glaubten — und endlich, ob ſie nicht gern in der Gefan- genſchaft ſelber ſich anſtrengen, und etwas lernen wollten, das ſie in Stand ſetzen koͤnnte, mit Nutzen fuͤr ſich ſelber und fuͤr ihren Nebenmenſchen in der Welt zu leben? Sie fielen faſt vor ihm auf die Knie, jammerten, daß ſie das Unmoͤgliche thun wollten, dieſem Elend zu entkommen. Ihrer viele ſagten, ſie muͤßten an Leib und Seele faſt verfau- len, und die Leute ſeyen Kinder von Unſchuld, wann ſie in dieſe Oerter hineingebracht werden, gegen den Zuſtand, in welchem ſie ſich befinden, wann ſie wieder herauskommen. Er war am dritten Abend mit der Geſchichte und Ausſage dieſer Leute fertig; eben ſo der Pfar- rer mit der Beſchreibung des Zuſtands von 70 Kindern, die in dieſem Hauſe an Kraͤtze, Blaͤſſe, Dummheit und Unanſtelligkeit bewieſen, daß ihre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/500
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/500>, abgerufen am 22.11.2024.