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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787.

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Diese gab ihr keine Antwort -- aber am Mor-
gen fand Sylvia auf ihrem Pult folgenden Brief. --

"Ich habe Sie bestohlen, und bin fort --
meine Gründe liegen zum Theil in Ihrem gestrigen
Betragen, zum Theil in meiner immer mehr stei-
genden Ueberzeugung, daß wir nicht für einander
geschaffen; aber ich bin izt nichts weniger als in
der Laune, mich über das, was ich thue, zu er-
klären, oder mich zu rechtfertigen; das ist gewiß,
daß ich für das, wozu Sie mich brauchten, nicht
bezahlt bin, und dieses ist, wie Sie wissen, von
einer Natur, daß wir beyde es nicht wohl von der
Obrigkeit können ausmachen lassen, was mir da-
für gebühre.

Aber erschrecken Sie um deßwillen nicht, ich
habe mich nicht über die Gebühr vergriffen; Ihr
Schmuckkästchen ist klein, und das Halbe und das
Beste davon habe ich daraus weggethan, und in
die Ecke Ihres Schranks neben die blaue Haube ge-
legt, die Sie gestern getragen. Ich will nichts als
von Ihnen fortkommen, meine philosophische Jung-
fer! mit dem Glauben, daß den Menschen nichts
entehre als der Diebstahl. Ich kenne Sie zu wohl,
um nicht auch als eine Diebin auf meiner Hut zu
seyn, daß Sie mich mit Recht nicht verachten kön-
nen, wie ich Sie verachte.

Dieſe gab ihr keine Antwort — aber am Mor-
gen fand Sylvia auf ihrem Pult folgenden Brief. —

„Ich habe Sie beſtohlen, und bin fort —
meine Gruͤnde liegen zum Theil in Ihrem geſtrigen
Betragen, zum Theil in meiner immer mehr ſtei-
genden Ueberzeugung, daß wir nicht fuͤr einander
geſchaffen; aber ich bin izt nichts weniger als in
der Laune, mich uͤber das, was ich thue, zu er-
klaͤren, oder mich zu rechtfertigen; das iſt gewiß,
daß ich fuͤr das, wozu Sie mich brauchten, nicht
bezahlt bin, und dieſes iſt, wie Sie wiſſen, von
einer Natur, daß wir beyde es nicht wohl von der
Obrigkeit koͤnnen ausmachen laſſen, was mir da-
fuͤr gebuͤhre.

Aber erſchrecken Sie um deßwillen nicht, ich
habe mich nicht uͤber die Gebuͤhr vergriffen; Ihr
Schmuckkaͤſtchen iſt klein, und das Halbe und das
Beſte davon habe ich daraus weggethan, und in
die Ecke Ihres Schranks neben die blaue Haube ge-
legt, die Sie geſtern getragen. Ich will nichts als
von Ihnen fortkommen, meine philoſophiſche Jung-
fer! mit dem Glauben, daß den Menſchen nichts
entehre als der Diebſtahl. Ich kenne Sie zu wohl,
um nicht auch als eine Diebin auf meiner Hut zu
ſeyn, daß Sie mich mit Recht nicht verachten koͤn-
nen, wie ich Sie verachte.

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[138/0156] Dieſe gab ihr keine Antwort — aber am Mor- gen fand Sylvia auf ihrem Pult folgenden Brief. — „Ich habe Sie beſtohlen, und bin fort — meine Gruͤnde liegen zum Theil in Ihrem geſtrigen Betragen, zum Theil in meiner immer mehr ſtei- genden Ueberzeugung, daß wir nicht fuͤr einander geſchaffen; aber ich bin izt nichts weniger als in der Laune, mich uͤber das, was ich thue, zu er- klaͤren, oder mich zu rechtfertigen; das iſt gewiß, daß ich fuͤr das, wozu Sie mich brauchten, nicht bezahlt bin, und dieſes iſt, wie Sie wiſſen, von einer Natur, daß wir beyde es nicht wohl von der Obrigkeit koͤnnen ausmachen laſſen, was mir da- fuͤr gebuͤhre. Aber erſchrecken Sie um deßwillen nicht, ich habe mich nicht uͤber die Gebuͤhr vergriffen; Ihr Schmuckkaͤſtchen iſt klein, und das Halbe und das Beſte davon habe ich daraus weggethan, und in die Ecke Ihres Schranks neben die blaue Haube ge- legt, die Sie geſtern getragen. Ich will nichts als von Ihnen fortkommen, meine philoſophiſche Jung- fer! mit dem Glauben, daß den Menſchen nichts entehre als der Diebſtahl. Ich kenne Sie zu wohl, um nicht auch als eine Diebin auf meiner Hut zu ſeyn, daß Sie mich mit Recht nicht verachten koͤn- nen, wie ich Sie verachte.

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/156>, abgerufen am 24.11.2024.