Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

aber mein Auge harret deiner, o Herr! Unser Le-
ben ist wie eine Blume des Felds, die am Morgen
blühet, am Abend aber verwelket. O Herr, un-
ser Herrscher! du bist gnädig und gut den Men-
schen, die auf dich trauen -- darum hoffet meine
Seele auf dich; aber der Weg des Sünders
führt zum Verderben. -- Kinder meines Dorfs! o
ihr Lieben! laßt euch lehren, wie es dem Gottlo-
sen geht, damit ihr fromm werdet. Ich habe Kin-
der gesehn, die ihren Eltern trotzten, und ihre Liebe
für nichts achteten -- allen, allen ist's übel gegan-
gen am Ende. Ich kannte des unglücklichen Ulis
Vater -- ich habe mit ihm unter einem Dache ge-
wohnt, und mit meinen Augen gesehn, wie der
gottlose Sohn den armen Vater kränkte und schimpf-
te -- und in meinem Leben werde ich's nicht ver-
gessen, wie der alte arme Mann eine Stunde vor
seinem Tode über ihn weinte. -- Ich sah den bö-
sen Buben an seiner Begräbniß lachen -- Kann
ihn Gott leben lassen, dachte ich, den Bösewicht?
Was geschah? Er nahm ein Weib, das hatte viel
Gut; und er war jezt im Dorf einer der Reichsten,
und gieng in seinem Stolz und in seiner Bosheit
einher, als ob Niemand im Himmel und Niemand
auf Erden über ihm wäre.

Ein Jahr gieng vorüber, da sah ich den stol-
zen Uli an seiner Frauen Begräbniß heulen und wei-
nen. Ihr Gut mußte er ihren Verwandten bis

auf

aber mein Auge harret deiner, o Herr! Unſer Le-
ben iſt wie eine Blume des Felds, die am Morgen
bluͤhet, am Abend aber verwelket. O Herr, un-
ſer Herrſcher! du biſt gnaͤdig und gut den Men-
ſchen, die auf dich trauen — darum hoffet meine
Seele auf dich; aber der Weg des Suͤnders
fuͤhrt zum Verderben. — Kinder meines Dorfs! o
ihr Lieben! laßt euch lehren, wie es dem Gottlo-
ſen geht, damit ihr fromm werdet. Ich habe Kin-
der geſehn, die ihren Eltern trotzten, und ihre Liebe
fuͤr nichts achteten — allen, allen iſt’s uͤbel gegan-
gen am Ende. Ich kannte des ungluͤcklichen Ulis
Vater — ich habe mit ihm unter einem Dache ge-
wohnt, und mit meinen Augen geſehn, wie der
gottloſe Sohn den armen Vater kraͤnkte und ſchimpf-
te — und in meinem Leben werde ich’s nicht ver-
geſſen, wie der alte arme Mann eine Stunde vor
ſeinem Tode uͤber ihn weinte. — Ich ſah den boͤ-
ſen Buben an ſeiner Begraͤbniß lachen — Kann
ihn Gott leben laſſen, dachte ich, den Boͤſewicht?
Was geſchah? Er nahm ein Weib, das hatte viel
Gut; und er war jezt im Dorf einer der Reichſten,
und gieng in ſeinem Stolz und in ſeiner Bosheit
einher, als ob Niemand im Himmel und Niemand
auf Erden uͤber ihm waͤre.

Ein Jahr gieng voruͤber, da ſah ich den ſtol-
zen Uli an ſeiner Frauen Begraͤbniß heulen und wei-
nen. Ihr Gut mußte er ihren Verwandten bis

auf
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0294" n="269"/>
aber mein Auge harret deiner, o Herr! Un&#x017F;er Le-<lb/>
ben i&#x017F;t wie eine Blume des Felds, die am Morgen<lb/>
blu&#x0364;het, am Abend aber verwelket. O Herr, un-<lb/>
&#x017F;er Herr&#x017F;cher! du bi&#x017F;t gna&#x0364;dig und gut den Men-<lb/>
&#x017F;chen, die auf dich trauen &#x2014; darum hoffet meine<lb/>
Seele auf dich; aber der Weg des Su&#x0364;nders<lb/>
fu&#x0364;hrt zum Verderben. &#x2014; Kinder meines Dorfs! o<lb/>
ihr Lieben! laßt euch lehren, wie es dem Gottlo-<lb/>
&#x017F;en geht, damit ihr fromm werdet. Ich habe Kin-<lb/>
der ge&#x017F;ehn, die ihren Eltern trotzten, und ihre Liebe<lb/>
fu&#x0364;r nichts achteten &#x2014; allen, allen i&#x017F;t&#x2019;s u&#x0364;bel gegan-<lb/>
gen am Ende. Ich kannte des unglu&#x0364;cklichen Ulis<lb/>
Vater &#x2014; ich habe mit ihm unter einem Dache ge-<lb/>
wohnt, und mit meinen Augen ge&#x017F;ehn, wie der<lb/>
gottlo&#x017F;e Sohn den armen Vater kra&#x0364;nkte und &#x017F;chimpf-<lb/>
te &#x2014; und in meinem Leben werde ich&#x2019;s nicht ver-<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en, wie der alte arme Mann eine Stunde vor<lb/>
&#x017F;einem Tode u&#x0364;ber ihn weinte. &#x2014; Ich &#x017F;ah den bo&#x0364;-<lb/>
&#x017F;en Buben an &#x017F;einer Begra&#x0364;bniß lachen &#x2014; Kann<lb/>
ihn Gott leben la&#x017F;&#x017F;en, dachte ich, den Bo&#x0364;&#x017F;ewicht?<lb/>
Was ge&#x017F;chah? Er nahm ein Weib, das hatte viel<lb/>
Gut; und er war jezt im Dorf einer der Reich&#x017F;ten,<lb/>
und gieng in &#x017F;einem Stolz und in &#x017F;einer Bosheit<lb/>
einher, als ob Niemand im Himmel und Niemand<lb/>
auf Erden u&#x0364;ber ihm wa&#x0364;re.</p><lb/>
          <p>Ein Jahr gieng voru&#x0364;ber, da &#x017F;ah ich den &#x017F;tol-<lb/>
zen Uli an &#x017F;einer Frauen Begra&#x0364;bniß heulen und wei-<lb/>
nen. Ihr Gut mußte er ihren Verwandten bis<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">auf</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0294] aber mein Auge harret deiner, o Herr! Unſer Le- ben iſt wie eine Blume des Felds, die am Morgen bluͤhet, am Abend aber verwelket. O Herr, un- ſer Herrſcher! du biſt gnaͤdig und gut den Men- ſchen, die auf dich trauen — darum hoffet meine Seele auf dich; aber der Weg des Suͤnders fuͤhrt zum Verderben. — Kinder meines Dorfs! o ihr Lieben! laßt euch lehren, wie es dem Gottlo- ſen geht, damit ihr fromm werdet. Ich habe Kin- der geſehn, die ihren Eltern trotzten, und ihre Liebe fuͤr nichts achteten — allen, allen iſt’s uͤbel gegan- gen am Ende. Ich kannte des ungluͤcklichen Ulis Vater — ich habe mit ihm unter einem Dache ge- wohnt, und mit meinen Augen geſehn, wie der gottloſe Sohn den armen Vater kraͤnkte und ſchimpf- te — und in meinem Leben werde ich’s nicht ver- geſſen, wie der alte arme Mann eine Stunde vor ſeinem Tode uͤber ihn weinte. — Ich ſah den boͤ- ſen Buben an ſeiner Begraͤbniß lachen — Kann ihn Gott leben laſſen, dachte ich, den Boͤſewicht? Was geſchah? Er nahm ein Weib, das hatte viel Gut; und er war jezt im Dorf einer der Reichſten, und gieng in ſeinem Stolz und in ſeiner Bosheit einher, als ob Niemand im Himmel und Niemand auf Erden uͤber ihm waͤre. Ein Jahr gieng voruͤber, da ſah ich den ſtol- zen Uli an ſeiner Frauen Begraͤbniß heulen und wei- nen. Ihr Gut mußte er ihren Verwandten bis auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/294
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/294>, abgerufen am 23.11.2024.