Bis jezt konnte sie zwar ihr stilles Weinen vor den Kindern verbergen; aber am Mitwochen vor der letzten Ostern -- da ihr Mann auch gar zu lang nicht heim kam, war ihr Schmerz zu mächtig, und die Kinder bemerkten ihre Thränen. Ach Mutter! riefen sie alle aus einem Munde, du weinest, und drängten sich enger an ihren Schoos. Angst und Sorge zeigten sich in jeder Geberde. -- Banges Schluchsen, tiefes, niedergeschlagenes Staunen, und stille Thränen umringten die Mutter, und selbst der Säugling auf ihrem Arme verrieth ein bisher ihm fremdes Schmerzengefühl. Sein erster Ausdruck von Sorge und von Angst -- Sein starres Auge, das zum erstenmale ohne Lächeln hart und steif und bang nach ihr blickte -- alles dieses brach ihr gänz- lich das Herz. Ihre Klagen brachen jezt in lau- tem Schreyen aus, und alle Kinder und der Säug- ling weinten mit der Mutter, und es war ein ent- setzliches Jammergeschrey, als eben Lienhard die Thüre eröffnete.
Gertrud lag mit ihrem Antlitz auf ihrem Bethe; hörte das Oeffnen der Thüre nicht, und sah nicht den kommenden Vater -- Auch die Kinder wur- den seiner nicht gewahr -- Sie sahn nur die jam- mernde Mutter -- und hiengen an ihren Armen, an ihrem Hals und an ihren Kleidern. So fand sie Lienhard.
Gott
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Bis jezt konnte ſie zwar ihr ſtilles Weinen vor den Kindern verbergen; aber am Mitwochen vor der letzten Oſtern — da ihr Mann auch gar zu lang nicht heim kam, war ihr Schmerz zu maͤchtig, und die Kinder bemerkten ihre Thraͤnen. Ach Mutter! riefen ſie alle aus einem Munde, du weineſt, und draͤngten ſich enger an ihren Schoos. Angſt und Sorge zeigten ſich in jeder Geberde. — Banges Schluchſen, tiefes, niedergeſchlagenes Staunen, und ſtille Thraͤnen umringten die Mutter, und ſelbſt der Saͤugling auf ihrem Arme verrieth ein bisher ihm fremdes Schmerzengefuͤhl. Sein erſter Ausdruck von Sorge und von Angſt — Sein ſtarres Auge, das zum erſtenmale ohne Laͤcheln hart und ſteif und bang nach ihr blickte — alles dieſes brach ihr gaͤnz- lich das Herz. Ihre Klagen brachen jezt in lau- tem Schreyen aus, und alle Kinder und der Saͤug- ling weinten mit der Mutter, und es war ein ent- ſetzliches Jammergeſchrey, als eben Lienhard die Thuͤre eroͤffnete.
Gertrud lag mit ihrem Antlitz auf ihrem Bethe; hoͤrte das Oeffnen der Thuͤre nicht, und ſah nicht den kommenden Vater — Auch die Kinder wur- den ſeiner nicht gewahr — Sie ſahn nur die jam- mernde Mutter — und hiengen an ihren Armen, an ihrem Hals und an ihren Kleidern. So fand ſie Lienhard.
Gott
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Bis jezt konnte ſie zwar ihr ſtilles Weinen vor
den Kindern verbergen; aber am Mitwochen vor
der letzten Oſtern — da ihr Mann auch gar zu lang
nicht heim kam, war ihr Schmerz zu maͤchtig, und
die Kinder bemerkten ihre Thraͤnen. Ach Mutter!
riefen ſie alle aus einem Munde, du weineſt, und
draͤngten ſich enger an ihren Schoos. Angſt und
Sorge zeigten ſich in jeder Geberde. — Banges
Schluchſen, tiefes, niedergeſchlagenes Staunen, und
ſtille Thraͤnen umringten die Mutter, und ſelbſt der
Saͤugling auf ihrem Arme verrieth ein bisher ihm
fremdes Schmerzengefuͤhl. Sein erſter Ausdruck
von Sorge und von Angſt — Sein ſtarres Auge,
das zum erſtenmale ohne Laͤcheln hart und ſteif und
bang nach ihr blickte — alles dieſes brach ihr gaͤnz-
lich das Herz. Ihre Klagen brachen jezt in lau-
tem Schreyen aus, und alle Kinder und der Saͤug-
ling weinten mit der Mutter, und es war ein ent-
ſetzliches Jammergeſchrey, als eben Lienhard die
Thuͤre eroͤffnete.
Gertrud lag mit ihrem Antlitz auf ihrem Bethe;
hoͤrte das Oeffnen der Thuͤre nicht, und ſah nicht
den kommenden Vater — Auch die Kinder wur-
den ſeiner nicht gewahr — Sie ſahn nur die jam-
mernde Mutter — und hiengen an ihren Armen,
an ihrem Hals und an ihren Kleidern. So fand
ſie Lienhard.
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/28>, abgerufen am 21.11.2024.
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