weinen, denn es geht mir an's Herz -- wie die Menschheit im Staube der Erden zur Unsterblichkeit reifet, und wie sie im Prunk und Tand der Erden unreif verwelket.
Wege doch, Menschheit! wege doch den Werth des Lebens auf dem Todbette des Menschen -- und du, der du den Armen verachtest, bemitleidest, und nicht kennest -- sage mir, ob der also sterben kann, der unglücklich gelebt hat? Aber ich schweige; ich will euch nicht lehren, Menschen! Ich hätte nur diß gern, daß ihr selber die Augen aufthätet, und selbst umsähet, wo Glück und Unglück, Segen und Unsegen in der Welt ist.
Gertrud tröstete den armen Rudi, und sagte ihm noch den letzten Wunsch der edeln Mutter, den er in seinem Jammer nicht gehört hatte.
Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand -- Wie mich die liebe Mutter reuet! wie sie so gut war! Gertrud! gelt, du willst auch an ihre Bitte den- ken?
Gertrud. Ich müßte ein Herz haben wie ein Stein, wenn ich's vergessen könnte. Ich will an deinen Kindern thun, was ich kann.
Rudi. Ach! Gott wird dir's vergelten, was du an uns thun wirst.
Gertrud kehret sich gegen das Fenster, wischt ihre Thränen vom Angesicht, hebt ihre Augen gen Himmel, seufzet, nimmt dann den Rudeli und seine
Ge-
weinen, denn es geht mir an’s Herz — wie die Menſchheit im Staube der Erden zur Unſterblichkeit reifet, und wie ſie im Prunk und Tand der Erden unreif verwelket.
Wege doch, Menſchheit! wege doch den Werth des Lebens auf dem Todbette des Menſchen — und du, der du den Armen verachteſt, bemitleideſt, und nicht kenneſt — ſage mir, ob der alſo ſterben kann, der ungluͤcklich gelebt hat? Aber ich ſchweige; ich will euch nicht lehren, Menſchen! Ich haͤtte nur diß gern, daß ihr ſelber die Augen aufthaͤtet, und ſelbſt umſaͤhet, wo Gluͤck und Ungluͤck, Segen und Unſegen in der Welt iſt.
Gertrud troͤſtete den armen Rudi, und ſagte ihm noch den letzten Wunſch der edeln Mutter, den er in ſeinem Jammer nicht gehoͤrt hatte.
Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand — Wie mich die liebe Mutter reuet! wie ſie ſo gut war! Gertrud! gelt, du willſt auch an ihre Bitte den- ken?
Gertrud. Ich muͤßte ein Herz haben wie ein Stein, wenn ich’s vergeſſen koͤnnte. Ich will an deinen Kindern thun, was ich kann.
Rudi. Ach! Gott wird dir’s vergelten, was du an uns thun wirſt.
Gertrud kehret ſich gegen das Fenſter, wiſcht ihre Thraͤnen vom Angeſicht, hebt ihre Augen gen Himmel, ſeufzet, nimmt dann den Rudeli und ſeine
Ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0134"n="109"/>
weinen, denn es geht mir an’s Herz — wie die<lb/>
Menſchheit im Staube der Erden zur Unſterblichkeit<lb/>
reifet, und wie ſie im Prunk und Tand der Erden<lb/>
unreif verwelket.</p><lb/><p>Wege doch, Menſchheit! wege doch den Werth<lb/>
des Lebens auf dem Todbette des Menſchen — und<lb/>
du, der du den Armen verachteſt, bemitleideſt, und<lb/>
nicht kenneſt —ſage mir, ob der alſo ſterben kann,<lb/>
der ungluͤcklich gelebt hat? Aber ich ſchweige; ich<lb/>
will euch nicht lehren, Menſchen! Ich haͤtte nur<lb/>
diß gern, daß ihr ſelber die Augen aufthaͤtet, und<lb/>ſelbſt umſaͤhet, wo Gluͤck und Ungluͤck, Segen und<lb/>
Unſegen in der Welt iſt.</p><lb/><p>Gertrud troͤſtete den armen Rudi, und ſagte<lb/>
ihm noch den letzten Wunſch der edeln Mutter,<lb/>
den er in ſeinem Jammer nicht gehoͤrt hatte.</p><lb/><p>Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand — Wie<lb/>
mich die liebe Mutter reuet! wie ſie ſo gut war!<lb/>
Gertrud! gelt, du willſt auch an ihre Bitte den-<lb/>
ken?</p><lb/><p><hirendition="#fr">Gertrud.</hi> Ich muͤßte ein Herz haben wie ein<lb/>
Stein, wenn ich’s vergeſſen koͤnnte. Ich will an<lb/>
deinen Kindern thun, was ich kann.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Rudi.</hi> Ach! Gott wird dir’s vergelten, was<lb/>
du an uns thun wirſt.</p><lb/><p>Gertrud kehret ſich gegen das Fenſter, wiſcht<lb/>
ihre Thraͤnen vom Angeſicht, hebt ihre Augen gen<lb/>
Himmel, ſeufzet, nimmt dann den Rudeli und ſeine<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Ge-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[109/0134]
weinen, denn es geht mir an’s Herz — wie die
Menſchheit im Staube der Erden zur Unſterblichkeit
reifet, und wie ſie im Prunk und Tand der Erden
unreif verwelket.
Wege doch, Menſchheit! wege doch den Werth
des Lebens auf dem Todbette des Menſchen — und
du, der du den Armen verachteſt, bemitleideſt, und
nicht kenneſt — ſage mir, ob der alſo ſterben kann,
der ungluͤcklich gelebt hat? Aber ich ſchweige; ich
will euch nicht lehren, Menſchen! Ich haͤtte nur
diß gern, daß ihr ſelber die Augen aufthaͤtet, und
ſelbſt umſaͤhet, wo Gluͤck und Ungluͤck, Segen und
Unſegen in der Welt iſt.
Gertrud troͤſtete den armen Rudi, und ſagte
ihm noch den letzten Wunſch der edeln Mutter,
den er in ſeinem Jammer nicht gehoͤrt hatte.
Der Rudi nimmt treuherzig ihre Hand — Wie
mich die liebe Mutter reuet! wie ſie ſo gut war!
Gertrud! gelt, du willſt auch an ihre Bitte den-
ken?
Gertrud. Ich muͤßte ein Herz haben wie ein
Stein, wenn ich’s vergeſſen koͤnnte. Ich will an
deinen Kindern thun, was ich kann.
Rudi. Ach! Gott wird dir’s vergelten, was
du an uns thun wirſt.
Gertrud kehret ſich gegen das Fenſter, wiſcht
ihre Thraͤnen vom Angeſicht, hebt ihre Augen gen
Himmel, ſeufzet, nimmt dann den Rudeli und ſeine
Ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/134>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.