§. 18. Ein armer Knab bittet ab, daß er Erdäp- fel gestohlen hat, und die Kranke stirbt.
Und nahm dann den Kleinen an die Hand, und gieng mit ihm.
Gertrud war allein bey Hause, als sie kamen, und sah bald, daß der Vater und der Knab Thrä- nen in den Augen hatten.
Was willst du, Nachbar Rudi? Warum wei- nest du? warum weint der Kleine? fragte sie lieb- reich, und bot dem Kleinen die Hand.
Ach, Gertrud! Ich bin in einem Unglück, ant- wortete Rudi -- Ich muß zu dir kommen, weil der Rudeli euch etliche mal aus eurer Grube Erd- äpfel genommen hat. Die Großmutter hat's gestern gemerkt, und er hat's ihr bekennt -- Verzeih es uns, Gertrud!
Die Großmutter ist auf dem Todbett. Ach, mein Gott! sie hat so eben Abschied bey uns ge- nommen. Ich weiß vor Angst und Sorge nicht, was ich sage. Gertrud! Sie läßt dich auch um Verzeihung bitten.
Es ist mir leid, ich kann sie dir jezt nicht zu- rück geben; aber ich will gern ein paar Tage kom-
men
G 5
§. 18. Ein armer Knab bittet ab, daß er Erdaͤp- fel geſtohlen hat, und die Kranke ſtirbt.
Und nahm dann den Kleinen an die Hand, und gieng mit ihm.
Gertrud war allein bey Hauſe, als ſie kamen, und ſah bald, daß der Vater und der Knab Thraͤ- nen in den Augen hatten.
Was willſt du, Nachbar Rudi? Warum wei- neſt du? warum weint der Kleine? fragte ſie lieb- reich, und bot dem Kleinen die Hand.
Ach, Gertrud! Ich bin in einem Ungluͤck, ant- wortete Rudi — Ich muß zu dir kommen, weil der Rudeli euch etliche mal aus eurer Grube Erd- aͤpfel genommen hat. Die Großmutter hat’s geſtern gemerkt, und er hat’s ihr bekennt — Verzeih es uns, Gertrud!
Die Großmutter iſt auf dem Todbett. Ach, mein Gott! ſie hat ſo eben Abſchied bey uns ge- nommen. Ich weiß vor Angſt und Sorge nicht, was ich ſage. Gertrud! Sie laͤßt dich auch um Verzeihung bitten.
Es iſt mir leid, ich kann ſie dir jezt nicht zu- ruͤck geben; aber ich will gern ein paar Tage kom-
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§. 18.
Ein armer Knab bittet ab, daß er Erdaͤp-
fel geſtohlen hat, und die Kranke ſtirbt.
Und nahm dann den Kleinen an die Hand, und
gieng mit ihm.
Gertrud war allein bey Hauſe, als ſie kamen,
und ſah bald, daß der Vater und der Knab Thraͤ-
nen in den Augen hatten.
Was willſt du, Nachbar Rudi? Warum wei-
neſt du? warum weint der Kleine? fragte ſie lieb-
reich, und bot dem Kleinen die Hand.
Ach, Gertrud! Ich bin in einem Ungluͤck, ant-
wortete Rudi — Ich muß zu dir kommen, weil
der Rudeli euch etliche mal aus eurer Grube Erd-
aͤpfel genommen hat. Die Großmutter hat’s geſtern
gemerkt, und er hat’s ihr bekennt — Verzeih es
uns, Gertrud!
Die Großmutter iſt auf dem Todbett. Ach,
mein Gott! ſie hat ſo eben Abſchied bey uns ge-
nommen. Ich weiß vor Angſt und Sorge nicht,
was ich ſage. Gertrud! Sie laͤßt dich auch um
Verzeihung bitten.
Es iſt mir leid, ich kann ſie dir jezt nicht zu-
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/130>, abgerufen am 24.11.2024.
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