Lienhard. Ich weiß es, Gertrud! an dir weiß ich's. Ich bin auch nicht blind. Ich sah es oft, wie du in der grössesten Noth auf Gott trautest und zufrieden warst: aber wenig Men- schen sind im Elend wie du, und viele sind, wie ich, bey dem Drang der Noth und des Elends sehr schwach; darum denke ich immer, man sollte mehr thun, um allen Armen Arbeit und Brod zu verschaffen. Ich glaube sie würden denn alle auch besser seyn, als sie in der Verwirrung ihrer Roth und ihres vielen Jammers jezo sind.
Gertrud. O Lieber! Das ist bey weitem nicht so; wenn es nichts als Arbeit und Verdienst brauchte, die Armen glücklich zu machen: so würde bald geholfen seyn. Aber das ist nicht so; bey Reichen und bey Armen muß das Herz in Ord- nung seyn, wenn sie glücklich seyn sollen. Und zu diesem Zweck kommen die weit mehrern Men- schen eher durch Roth und Sorgen, als durch Ruhe und Freuden; Gott würde uns sonst wohl gerne lauter Freude gönnen. Da aber die Men- schen Glück und Ruhe und Freuden nur alsdenn ertragen können, wenn ihr Herz zu vielen Ue- berwindungen gebildet, standhaft, stark, ge- dultig und weise ist, so ist offenbar nothwendig, daß viel Elend und Roth in der Welt seyn muß; denn ohne das kömmt bey wenigen Menschen das Herz in Ordnung und zur innern Ruhe. Und wo
das
Lienhard. Ich weiß es, Gertrud! an dir weiß ich’s. Ich bin auch nicht blind. Ich ſah es oft, wie du in der groͤſſeſten Noth auf Gott trauteſt und zufrieden warſt: aber wenig Men- ſchen ſind im Elend wie du, und viele ſind, wie ich, bey dem Drang der Noth und des Elends ſehr ſchwach; darum denke ich immer, man ſollte mehr thun, um allen Armen Arbeit und Brod zu verſchaffen. Ich glaube ſie wuͤrden denn alle auch beſſer ſeyn, als ſie in der Verwirrung ihrer Roth und ihres vielen Jammers jezo ſind.
Gertrud. O Lieber! Das iſt bey weitem nicht ſo; wenn es nichts als Arbeit und Verdienſt brauchte, die Armen gluͤcklich zu machen: ſo wuͤrde bald geholfen ſeyn. Aber das iſt nicht ſo; bey Reichen und bey Armen muß das Herz in Ord- nung ſeyn, wenn ſie gluͤcklich ſeyn ſollen. Und zu dieſem Zweck kommen die weit mehrern Men- ſchen eher durch Roth und Sorgen, als durch Ruhe und Freuden; Gott wuͤrde uns ſonſt wohl gerne lauter Freude goͤnnen. Da aber die Men- ſchen Gluͤck und Ruhe und Freuden nur alsdenn ertragen koͤnnen, wenn ihr Herz zu vielen Ue- berwindungen gebildet, ſtandhaft, ſtark, ge- dultig und weiſe iſt, ſo iſt offenbar nothwendig, daß viel Elend und Roth in der Welt ſeyn muß; denn ohne das koͤmmt bey wenigen Menſchen das Herz in Ordnung und zur innern Ruhe. Und wo
das
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Lienhard. Ich weiß es, Gertrud! an dir
weiß ich’s. Ich bin auch nicht blind. Ich ſah
es oft, wie du in der groͤſſeſten Noth auf Gott
trauteſt und zufrieden warſt: aber wenig Men-
ſchen ſind im Elend wie du, und viele ſind, wie
ich, bey dem Drang der Noth und des Elends
ſehr ſchwach; darum denke ich immer, man ſollte
mehr thun, um allen Armen Arbeit und Brod zu
verſchaffen. Ich glaube ſie wuͤrden denn alle auch
beſſer ſeyn, als ſie in der Verwirrung ihrer Roth
und ihres vielen Jammers jezo ſind.
Gertrud. O Lieber! Das iſt bey weitem
nicht ſo; wenn es nichts als Arbeit und Verdienſt
brauchte, die Armen gluͤcklich zu machen: ſo wuͤrde
bald geholfen ſeyn. Aber das iſt nicht ſo; bey
Reichen und bey Armen muß das Herz in Ord-
nung ſeyn, wenn ſie gluͤcklich ſeyn ſollen. Und
zu dieſem Zweck kommen die weit mehrern Men-
ſchen eher durch Roth und Sorgen, als durch
Ruhe und Freuden; Gott wuͤrde uns ſonſt wohl
gerne lauter Freude goͤnnen. Da aber die Men-
ſchen Gluͤck und Ruhe und Freuden nur alsdenn
ertragen koͤnnen, wenn ihr Herz zu vielen Ue-
berwindungen gebildet, ſtandhaft, ſtark, ge-
dultig und weiſe iſt, ſo iſt offenbar nothwendig,
daß viel Elend und Roth in der Welt ſeyn muß;
denn ohne das koͤmmt bey wenigen Menſchen das
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/105>, abgerufen am 24.11.2024.
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