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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die amerikanische Urbevölkerung.
nördlichen Festlandes im Vergleich zu denen im südlichen zeigt
sich am stärksten durch ihre gesellschaftlichen Gliederungen. Im
Norden ist es den Ethnographen geglückt, durch Sprachenvergleiche
die Stämme zu Völkern zu vereinigen und die Sitze dieser Völker
abzugrenzen. In Brasilien, Guayana und Venezuela lässt sich
eine solche Aufgabe gar nicht streng lösen, weil wir Völkern dort
überhaupt nicht begegnen, sondern nur Banden, und erst künst-
liche Namen geschaffen werden müssen, um sprachverwandte
Horden als Gruppen zu bezeichnen. In Nordamerika dagegen
wohnten in geschlossenen Gebieten die Algonkinvölker, in die sich
die Irokesen am Westabhange der Alleghany hineingeschoben
haben. Geschichtlich treten solche Völkerschaften bereits zu Con-
föderationen vereinigt auf, die Krieg und Frieden, sowie Staats-
verträge schliessen; ja bisweilen gelingt es, wenn auch nur auf
kurze Zeit, sämmtliche Jägerstämme zu einem grossen Bündniss
gegen die europäischen Bedränger aufzubieten. Auch wurden von
allen Stämmen gewisse völkerrechtliche Satzungen beobachtet, wie
z. B. dass ewiger Frieden auf dem geheiligten Gebiet der Brüche
des rothen Pfeifensteines herrschen sollte. Endlich, und dies ist
in unsern Augen das höchste, bemerken wir bei den Nordameri-
kanern Anfänge von Gedankenmitteilung durch eine Bilderschrift.
Lesbar waren diese Aufzeichnungen freilich nur für diejenigen,
denen der Sinn der Bilder und ihre Beziehungen auf eine be-
stimmte Begebenheit bekannt war. Immerhin dienten solche Ur-
kunden zur Auffrischung des Gedächtnisses. Von ähnlichen An-
fängen gewahren wir aber in Südamerika, östlich von den
Cordilleren, nicht das mindeste, und es lässt sich daher nicht be-
streiten, dass die Bewohner des nördlichen Festlandes (abgesehen
von ihren Culturvölkern, für die übrigens das nämliche gilt) eine
weit höhere Gesittung sich errungen hatten, als die Bewohner
Südamerika's. Somit erwächst uns die Aufgabe, zu ermitteln, in
wiefern etwa die Ländergestalt auf die ungleiche Vertheilung der
Gesittung Einfluss geübt habe.

Darin aber erkennen wir die grösste Bevorzugung Nord-
amerika's, dass es der alten Welt näher liegt als Südamerika, so
dass Pflanzen, Thiere und Menschen, die über die Beringstrasse
wanderten, zunächst im nördlichen Festlande sich ausbreiten
mussten, wenn sie das südliche erreichen sollten. So gut wie die
Eskimo aus Asien in einer späteren Zeit einwanderten und so gut

Die amerikanische Urbevölkerung.
nördlichen Festlandes im Vergleich zu denen im südlichen zeigt
sich am stärksten durch ihre gesellschaftlichen Gliederungen. Im
Norden ist es den Ethnographen geglückt, durch Sprachenvergleiche
die Stämme zu Völkern zu vereinigen und die Sitze dieser Völker
abzugrenzen. In Brasilien, Guayana und Venezuela lässt sich
eine solche Aufgabe gar nicht streng lösen, weil wir Völkern dort
überhaupt nicht begegnen, sondern nur Banden, und erst künst-
liche Namen geschaffen werden müssen, um sprachverwandte
Horden als Gruppen zu bezeichnen. In Nordamerika dagegen
wohnten in geschlossenen Gebieten die Algonkinvölker, in die sich
die Irokesen am Westabhange der Alleghany hineingeschoben
haben. Geschichtlich treten solche Völkerschaften bereits zu Con-
föderationen vereinigt auf, die Krieg und Frieden, sowie Staats-
verträge schliessen; ja bisweilen gelingt es, wenn auch nur auf
kurze Zeit, sämmtliche Jägerstämme zu einem grossen Bündniss
gegen die europäischen Bedränger aufzubieten. Auch wurden von
allen Stämmen gewisse völkerrechtliche Satzungen beobachtet, wie
z. B. dass ewiger Frieden auf dem geheiligten Gebiet der Brüche
des rothen Pfeifensteines herrschen sollte. Endlich, und dies ist
in unsern Augen das höchste, bemerken wir bei den Nordameri-
kanern Anfänge von Gedankenmitteilung durch eine Bilderschrift.
Lesbar waren diese Aufzeichnungen freilich nur für diejenigen,
denen der Sinn der Bilder und ihre Beziehungen auf eine be-
stimmte Begebenheit bekannt war. Immerhin dienten solche Ur-
kunden zur Auffrischung des Gedächtnisses. Von ähnlichen An-
fängen gewahren wir aber in Südamerika, östlich von den
Cordilleren, nicht das mindeste, und es lässt sich daher nicht be-
streiten, dass die Bewohner des nördlichen Festlandes (abgesehen
von ihren Culturvölkern, für die übrigens das nämliche gilt) eine
weit höhere Gesittung sich errungen hatten, als die Bewohner
Südamerika’s. Somit erwächst uns die Aufgabe, zu ermitteln, in
wiefern etwa die Ländergestalt auf die ungleiche Vertheilung der
Gesittung Einfluss geübt habe.

Darin aber erkennen wir die grösste Bevorzugung Nord-
amerika’s, dass es der alten Welt näher liegt als Südamerika, so
dass Pflanzen, Thiere und Menschen, die über die Beringstrasse
wanderten, zunächst im nördlichen Festlande sich ausbreiten
mussten, wenn sie das südliche erreichen sollten. So gut wie die
Eskimo aus Asien in einer späteren Zeit einwanderten und so gut

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[461/0479] Die amerikanische Urbevölkerung. nördlichen Festlandes im Vergleich zu denen im südlichen zeigt sich am stärksten durch ihre gesellschaftlichen Gliederungen. Im Norden ist es den Ethnographen geglückt, durch Sprachenvergleiche die Stämme zu Völkern zu vereinigen und die Sitze dieser Völker abzugrenzen. In Brasilien, Guayana und Venezuela lässt sich eine solche Aufgabe gar nicht streng lösen, weil wir Völkern dort überhaupt nicht begegnen, sondern nur Banden, und erst künst- liche Namen geschaffen werden müssen, um sprachverwandte Horden als Gruppen zu bezeichnen. In Nordamerika dagegen wohnten in geschlossenen Gebieten die Algonkinvölker, in die sich die Irokesen am Westabhange der Alleghany hineingeschoben haben. Geschichtlich treten solche Völkerschaften bereits zu Con- föderationen vereinigt auf, die Krieg und Frieden, sowie Staats- verträge schliessen; ja bisweilen gelingt es, wenn auch nur auf kurze Zeit, sämmtliche Jägerstämme zu einem grossen Bündniss gegen die europäischen Bedränger aufzubieten. Auch wurden von allen Stämmen gewisse völkerrechtliche Satzungen beobachtet, wie z. B. dass ewiger Frieden auf dem geheiligten Gebiet der Brüche des rothen Pfeifensteines herrschen sollte. Endlich, und dies ist in unsern Augen das höchste, bemerken wir bei den Nordameri- kanern Anfänge von Gedankenmitteilung durch eine Bilderschrift. Lesbar waren diese Aufzeichnungen freilich nur für diejenigen, denen der Sinn der Bilder und ihre Beziehungen auf eine be- stimmte Begebenheit bekannt war. Immerhin dienten solche Ur- kunden zur Auffrischung des Gedächtnisses. Von ähnlichen An- fängen gewahren wir aber in Südamerika, östlich von den Cordilleren, nicht das mindeste, und es lässt sich daher nicht be- streiten, dass die Bewohner des nördlichen Festlandes (abgesehen von ihren Culturvölkern, für die übrigens das nämliche gilt) eine weit höhere Gesittung sich errungen hatten, als die Bewohner Südamerika’s. Somit erwächst uns die Aufgabe, zu ermitteln, in wiefern etwa die Ländergestalt auf die ungleiche Vertheilung der Gesittung Einfluss geübt habe. Darin aber erkennen wir die grösste Bevorzugung Nord- amerika’s, dass es der alten Welt näher liegt als Südamerika, so dass Pflanzen, Thiere und Menschen, die über die Beringstrasse wanderten, zunächst im nördlichen Festlande sich ausbreiten mussten, wenn sie das südliche erreichen sollten. So gut wie die Eskimo aus Asien in einer späteren Zeit einwanderten und so gut

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/479>, abgerufen am 23.12.2024.