Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Beringsvölker.
eine Weltregion gestiftet, aber sie haben dafür zuerst durch eigene
Kraft und Kunst sich Wege gebahnt nach Gürteln der Erde, wo
Tag und Nacht über die Dauer von Jahreszeiten sich erstrecken,
sie haben bewiesen, dass der Mensch sich noch behaupten kann
wo ein neunmonatlicher Winter das Land versteinert, wo kein
Baum mehr wächst, ja wo nicht so viel Holz angeschwemmt wird,
um nur als Schaft zu einem Speer zu dienen. Sie haben sich
bemüht aus den Knochen arktischer Säugethiere, ihrer Jagdbeute,
durch Aneinanderstücken Schlitten zu erbauen und Lanzen zusam-
menzufügen, die, mit Thiersehnen festgeschnürt, Dauerhaftigkeit
genug besitzen dass ein unerschrockener Jäger im Handgemenge den
weissen Bären zu erlegen vermag. Sie haben es ersonnen wie
man aus Schnee ebenso rasch Hütten bauen kann, wie tropische
Völker aus Zweigen und Blättern, ja sie haben aus Steinen Bogen-
gewölbe ausgeführt, woran keines der Culturvölker Mexico's ge-
dacht hat. Sie verstanden auch ihre Hütten durch Thranlampen
zu erwärmen, über ihnen Schnee und Eis zum Fliessen zu bringen,
damit sie ihren Durst löschen konnten. Sie besassen, was in
ganz Amerika nirgends sonst der Fall war, ein Verkehrswerkzeug
auf festem Grunde, den Schlitten, und sie hatten zu seiner Bewe-
gung Thiere, nämlich Hunde, vorgespannt, während die höchste
Stufe solcher technischen Fortschritte in Amerika nur noch bei
den Incaperuanern angetroffen wurde, welche die Llama zwar nicht
zum Ziehen, aber doch wenigstens zum Tragen abrichteten. So
ist es denn an sich schon eine culturgeschichtliche Leistung den
hohen Norden der Erde bevölkert zu haben, und zwar lösten die
Eskimo diese unbeneidete Aufgabe als sie selbst noch im Zeitalter
der Steingeräthe sich befanden. Jetzt freilich erhandeln sie von
den Dänen Eisen zu Lanzen und Harpunenspitzen, allein Nord-
grönland wurde längst von ihnen bewohnt ehe sich Europäer in
ihre Nähe wagten. Das erste Schiff welches 1616 unter Capt. By-
lot in die Baffinsbai drang, knüpfte dort einen Verkehr mit den
Eingebornen an. Erst 1818 zeigte sich der ältere Ross als zweiter
Seefahrer unter jenen Breiten, und auf seinen Spuren folgten dann
die Waljäger, welche das erste Eisen brachten. Die Eskimohorde
aber welche jenseits des Smithsundes wohnt, sitzt dort sicherlich
seit etlichen Menschenaltern, vielleicht seit Jahrhunderten.

Nicht geringe Verdienste haben sich aber um die Vermeh-
rung europäischer Wissenschaft die Eskimo dadurch erworben,

Die Beringsvölker.
eine Weltregion gestiftet, aber sie haben dafür zuerst durch eigene
Kraft und Kunst sich Wege gebahnt nach Gürteln der Erde, wo
Tag und Nacht über die Dauer von Jahreszeiten sich erstrecken,
sie haben bewiesen, dass der Mensch sich noch behaupten kann
wo ein neunmonatlicher Winter das Land versteinert, wo kein
Baum mehr wächst, ja wo nicht so viel Holz angeschwemmt wird,
um nur als Schaft zu einem Speer zu dienen. Sie haben sich
bemüht aus den Knochen arktischer Säugethiere, ihrer Jagdbeute,
durch Aneinanderstücken Schlitten zu erbauen und Lanzen zusam-
menzufügen, die, mit Thiersehnen festgeschnürt, Dauerhaftigkeit
genug besitzen dass ein unerschrockener Jäger im Handgemenge den
weissen Bären zu erlegen vermag. Sie haben es ersonnen wie
man aus Schnee ebenso rasch Hütten bauen kann, wie tropische
Völker aus Zweigen und Blättern, ja sie haben aus Steinen Bogen-
gewölbe ausgeführt, woran keines der Culturvölker Mexico’s ge-
dacht hat. Sie verstanden auch ihre Hütten durch Thranlampen
zu erwärmen, über ihnen Schnee und Eis zum Fliessen zu bringen,
damit sie ihren Durst löschen konnten. Sie besassen, was in
ganz Amerika nirgends sonst der Fall war, ein Verkehrswerkzeug
auf festem Grunde, den Schlitten, und sie hatten zu seiner Bewe-
gung Thiere, nämlich Hunde, vorgespannt, während die höchste
Stufe solcher technischen Fortschritte in Amerika nur noch bei
den Incaperuanern angetroffen wurde, welche die Llama zwar nicht
zum Ziehen, aber doch wenigstens zum Tragen abrichteten. So
ist es denn an sich schon eine culturgeschichtliche Leistung den
hohen Norden der Erde bevölkert zu haben, und zwar lösten die
Eskimo diese unbeneidete Aufgabe als sie selbst noch im Zeitalter
der Steingeräthe sich befanden. Jetzt freilich erhandeln sie von
den Dänen Eisen zu Lanzen und Harpunenspitzen, allein Nord-
grönland wurde längst von ihnen bewohnt ehe sich Europäer in
ihre Nähe wagten. Das erste Schiff welches 1616 unter Capt. By-
lot in die Baffinsbai drang, knüpfte dort einen Verkehr mit den
Eingebornen an. Erst 1818 zeigte sich der ältere Ross als zweiter
Seefahrer unter jenen Breiten, und auf seinen Spuren folgten dann
die Waljäger, welche das erste Eisen brachten. Die Eskimohorde
aber welche jenseits des Smithsundes wohnt, sitzt dort sicherlich
seit etlichen Menschenaltern, vielleicht seit Jahrhunderten.

Nicht geringe Verdienste haben sich aber um die Vermeh-
rung europäischer Wissenschaft die Eskimo dadurch erworben,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0439" n="421"/><fw place="top" type="header">Die Beringsvölker.</fw><lb/>
eine Weltregion gestiftet, aber sie haben dafür zuerst durch eigene<lb/>
Kraft und Kunst sich Wege gebahnt nach Gürteln der Erde, wo<lb/>
Tag und Nacht über die Dauer von Jahreszeiten sich erstrecken,<lb/>
sie haben bewiesen, dass der Mensch sich noch behaupten kann<lb/>
wo ein neunmonatlicher Winter das Land versteinert, wo kein<lb/>
Baum mehr wächst, ja wo nicht so viel Holz angeschwemmt wird,<lb/>
um nur als Schaft zu einem Speer zu dienen. Sie haben sich<lb/>
bemüht aus den Knochen arktischer Säugethiere, ihrer Jagdbeute,<lb/>
durch Aneinanderstücken Schlitten zu erbauen und Lanzen zusam-<lb/>
menzufügen, die, mit Thiersehnen festgeschnürt, Dauerhaftigkeit<lb/>
genug besitzen dass ein unerschrockener Jäger im Handgemenge den<lb/>
weissen Bären zu erlegen vermag. Sie haben es ersonnen wie<lb/>
man aus Schnee ebenso rasch Hütten bauen kann, wie tropische<lb/>
Völker aus Zweigen und Blättern, ja sie haben aus Steinen Bogen-<lb/>
gewölbe ausgeführt, woran keines der Culturvölker Mexico&#x2019;s ge-<lb/>
dacht hat. Sie verstanden auch ihre Hütten durch Thranlampen<lb/>
zu erwärmen, über ihnen Schnee und Eis zum Fliessen zu bringen,<lb/>
damit sie ihren Durst löschen konnten. Sie besassen, was in<lb/>
ganz Amerika nirgends sonst der Fall war, ein Verkehrswerkzeug<lb/>
auf festem Grunde, den Schlitten, und sie hatten zu seiner Bewe-<lb/>
gung Thiere, nämlich Hunde, vorgespannt, während die höchste<lb/>
Stufe solcher technischen Fortschritte in Amerika nur noch bei<lb/>
den Incaperuanern angetroffen wurde, welche die Llama zwar nicht<lb/>
zum Ziehen, aber doch wenigstens zum Tragen abrichteten. So<lb/>
ist es denn an sich schon eine culturgeschichtliche Leistung den<lb/>
hohen Norden der Erde bevölkert zu haben, und zwar lösten die<lb/>
Eskimo diese unbeneidete Aufgabe als sie selbst noch im Zeitalter<lb/>
der Steingeräthe sich befanden. Jetzt freilich erhandeln sie von<lb/>
den Dänen Eisen zu Lanzen und Harpunenspitzen, allein Nord-<lb/>
grönland wurde längst von ihnen bewohnt ehe sich Europäer in<lb/>
ihre Nähe wagten. Das erste Schiff welches 1616 unter Capt. By-<lb/>
lot in die Baffinsbai drang, knüpfte dort einen Verkehr mit den<lb/>
Eingebornen an. Erst 1818 zeigte sich der ältere Ross als zweiter<lb/>
Seefahrer unter jenen Breiten, und auf seinen Spuren folgten dann<lb/>
die Waljäger, welche das erste Eisen brachten. Die Eskimohorde<lb/>
aber welche jenseits des Smithsundes wohnt, sitzt dort sicherlich<lb/>
seit etlichen Menschenaltern, vielleicht seit Jahrhunderten.</p><lb/>
              <p>Nicht geringe Verdienste haben sich aber um die Vermeh-<lb/>
rung europäischer Wissenschaft die Eskimo dadurch erworben,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[421/0439] Die Beringsvölker. eine Weltregion gestiftet, aber sie haben dafür zuerst durch eigene Kraft und Kunst sich Wege gebahnt nach Gürteln der Erde, wo Tag und Nacht über die Dauer von Jahreszeiten sich erstrecken, sie haben bewiesen, dass der Mensch sich noch behaupten kann wo ein neunmonatlicher Winter das Land versteinert, wo kein Baum mehr wächst, ja wo nicht so viel Holz angeschwemmt wird, um nur als Schaft zu einem Speer zu dienen. Sie haben sich bemüht aus den Knochen arktischer Säugethiere, ihrer Jagdbeute, durch Aneinanderstücken Schlitten zu erbauen und Lanzen zusam- menzufügen, die, mit Thiersehnen festgeschnürt, Dauerhaftigkeit genug besitzen dass ein unerschrockener Jäger im Handgemenge den weissen Bären zu erlegen vermag. Sie haben es ersonnen wie man aus Schnee ebenso rasch Hütten bauen kann, wie tropische Völker aus Zweigen und Blättern, ja sie haben aus Steinen Bogen- gewölbe ausgeführt, woran keines der Culturvölker Mexico’s ge- dacht hat. Sie verstanden auch ihre Hütten durch Thranlampen zu erwärmen, über ihnen Schnee und Eis zum Fliessen zu bringen, damit sie ihren Durst löschen konnten. Sie besassen, was in ganz Amerika nirgends sonst der Fall war, ein Verkehrswerkzeug auf festem Grunde, den Schlitten, und sie hatten zu seiner Bewe- gung Thiere, nämlich Hunde, vorgespannt, während die höchste Stufe solcher technischen Fortschritte in Amerika nur noch bei den Incaperuanern angetroffen wurde, welche die Llama zwar nicht zum Ziehen, aber doch wenigstens zum Tragen abrichteten. So ist es denn an sich schon eine culturgeschichtliche Leistung den hohen Norden der Erde bevölkert zu haben, und zwar lösten die Eskimo diese unbeneidete Aufgabe als sie selbst noch im Zeitalter der Steingeräthe sich befanden. Jetzt freilich erhandeln sie von den Dänen Eisen zu Lanzen und Harpunenspitzen, allein Nord- grönland wurde längst von ihnen bewohnt ehe sich Europäer in ihre Nähe wagten. Das erste Schiff welches 1616 unter Capt. By- lot in die Baffinsbai drang, knüpfte dort einen Verkehr mit den Eingebornen an. Erst 1818 zeigte sich der ältere Ross als zweiter Seefahrer unter jenen Breiten, und auf seinen Spuren folgten dann die Waljäger, welche das erste Eisen brachten. Die Eskimohorde aber welche jenseits des Smithsundes wohnt, sitzt dort sicherlich seit etlichen Menschenaltern, vielleicht seit Jahrhunderten. Nicht geringe Verdienste haben sich aber um die Vermeh- rung europäischer Wissenschaft die Eskimo dadurch erworben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/439
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/439>, abgerufen am 23.12.2024.