Prognathismus tritt nicht überall und stets in mässigem Grade auf. Doch ist die Zahl der gemessenen Schädel ausserordentlich dürftig. Selbst Barnard Davis verfügte nur über 21 Chinesenköpfe beiderlei Geschlechtes, und was sind 21 Köpfe, wenn es sich darum handelt, die mittleren Grössenverhältnisse bei 350 Millionen Men- schen, zerstreut über eines der grössten Reiche der Erde, fest- zustellen?
Bei der guten Uebereinstimmung der wichtigsten Racen- merkmale können diese Völker nur nach ihren Sprachen geschieden werden. Die Sprache der Bod-dschi oder der Bewohner Tübets, obgleich streng einsylbig, besitzt doch Präfixe, die zwar nicht aus- gesprochen, wohl aber geschrieben werden 1), und bietet daher der vergleichenden Linguistik noch ein dunkles, ungelöstes Räthsel 2). Im Himalaya, vorzüglich an den südlichen Abhängen, sitzen eine Anzahl kleiner Stämme, deren Namen aufzuzählen hier nicht beab- sichtigt wird. Sie stehen leiblich wie sprachlich den Tübetern sehr nahe, sind aber nur theilweis rein geblieben, meistens sonst mit indischem Blute gemischt. Zu den rein gebliebenen gehören die Leptscha, welche Sikkim beherrschen 3). Nicht unbeachtet darf es bleiben, dass auch die nomadischen Sifan in den chinesischen Pro- vinzen Schensi und Sse-tschuen sprachlich noch zu dem tübetischen Völkerkreise gehören.
Eine andere Gruppe von Völkern schaart sich um die Bir- manen, deren Sprachtypus uns schon beschäftigt hat 4). Ver- schwistert mit ihnen sind die Bewohner Arakans, die Khyeng, in dem Grenzgebirge zwischen Arakan und der Irawadi und die kleinen Stämme zwischen Irawadi und Brahmaputra. Eine andere Abtheilung bilden die Thai oder Siamesen, von denen die Laos- völker im Innern Siams nur durch mundartliche Verschiedenheiten getrennt werden. Die roh gebliebenen Miaotse oder Miautsi in den hochgelegenen Theilen der Südhälfte des chinesischen Reiches, welche dort als Urbewohner gelten, sollen ebenfalls zur Thaigruppe
1) Die Städtenamen Thashilhunpo und Tassisudon werden beispielsweise geschrieben b Kras shis lhun po und b Kras shis chhos krong. v. Schlagint- weit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 44.
2)Whitney, Language and the study of language. p. 337.
3) v. Schlagintweit, l. c. S. 46.
4) S. oben S. 121.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen.
Prognathismus tritt nicht überall und stets in mässigem Grade auf. Doch ist die Zahl der gemessenen Schädel ausserordentlich dürftig. Selbst Barnard Davis verfügte nur über 21 Chinesenköpfe beiderlei Geschlechtes, und was sind 21 Köpfe, wenn es sich darum handelt, die mittleren Grössenverhältnisse bei 350 Millionen Men- schen, zerstreut über eines der grössten Reiche der Erde, fest- zustellen?
Bei der guten Uebereinstimmung der wichtigsten Racen- merkmale können diese Völker nur nach ihren Sprachen geschieden werden. Die Sprache der Bod-dschi oder der Bewohner Tübets, obgleich streng einsylbig, besitzt doch Präfixe, die zwar nicht aus- gesprochen, wohl aber geschrieben werden 1), und bietet daher der vergleichenden Linguistik noch ein dunkles, ungelöstes Räthsel 2). Im Himalaya, vorzüglich an den südlichen Abhängen, sitzen eine Anzahl kleiner Stämme, deren Namen aufzuzählen hier nicht beab- sichtigt wird. Sie stehen leiblich wie sprachlich den Tübetern sehr nahe, sind aber nur theilweis rein geblieben, meistens sonst mit indischem Blute gemischt. Zu den rein gebliebenen gehören die Leptscha, welche Sikkim beherrschen 3). Nicht unbeachtet darf es bleiben, dass auch die nomadischen Sifan in den chinesischen Pro- vinzen Schensi und Sse-tschuen sprachlich noch zu dem tübetischen Völkerkreise gehören.
Eine andere Gruppe von Völkern schaart sich um die Bir- manen, deren Sprachtypus uns schon beschäftigt hat 4). Ver- schwistert mit ihnen sind die Bewohner Arakans, die Khyeng, in dem Grenzgebirge zwischen Arakan und der Irawadi und die kleinen Stämme zwischen Irawadi und Brahmaputra. Eine andere Abtheilung bilden die Thaï oder Siamesen, von denen die Laos- völker im Innern Siams nur durch mundartliche Verschiedenheiten getrennt werden. Die roh gebliebenen Miaotse oder Miautsi in den hochgelegenen Theilen der Südhälfte des chinesischen Reiches, welche dort als Urbewohner gelten, sollen ebenfalls zur Thaïgruppe
1) Die Städtenamen Thashilhúnpo und Tassisudon werden beispielsweise geschrieben b Kras shis lhun po und b Kras shis chhos krong. v. Schlagint- weit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 44.
2)Whitney, Language and the study of language. p. 337.
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4) S. oben S. 121.
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Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen.
Prognathismus tritt nicht überall und stets in mässigem Grade
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dürftig. Selbst Barnard Davis verfügte nur über 21 Chinesenköpfe
beiderlei Geschlechtes, und was sind 21 Köpfe, wenn es sich darum
handelt, die mittleren Grössenverhältnisse bei 350 Millionen Men-
schen, zerstreut über eines der grössten Reiche der Erde, fest-
zustellen?
Bei der guten Uebereinstimmung der wichtigsten Racen-
merkmale können diese Völker nur nach ihren Sprachen geschieden
werden. Die Sprache der Bod-dschi oder der Bewohner Tübets,
obgleich streng einsylbig, besitzt doch Präfixe, die zwar nicht aus-
gesprochen, wohl aber geschrieben werden 1), und bietet daher der
vergleichenden Linguistik noch ein dunkles, ungelöstes Räthsel 2).
Im Himalaya, vorzüglich an den südlichen Abhängen, sitzen eine
Anzahl kleiner Stämme, deren Namen aufzuzählen hier nicht beab-
sichtigt wird. Sie stehen leiblich wie sprachlich den Tübetern sehr
nahe, sind aber nur theilweis rein geblieben, meistens sonst mit
indischem Blute gemischt. Zu den rein gebliebenen gehören die
Leptscha, welche Sikkim beherrschen 3). Nicht unbeachtet darf es
bleiben, dass auch die nomadischen Sifan in den chinesischen Pro-
vinzen Schensi und Sse-tschuen sprachlich noch zu dem tübetischen
Völkerkreise gehören.
Eine andere Gruppe von Völkern schaart sich um die Bir-
manen, deren Sprachtypus uns schon beschäftigt hat 4). Ver-
schwistert mit ihnen sind die Bewohner Arakans, die Khyeng, in
dem Grenzgebirge zwischen Arakan und der Irawadi und die
kleinen Stämme zwischen Irawadi und Brahmaputra. Eine andere
Abtheilung bilden die Thaï oder Siamesen, von denen die Laos-
völker im Innern Siams nur durch mundartliche Verschiedenheiten
getrennt werden. Die roh gebliebenen Miaotse oder Miautsi in
den hochgelegenen Theilen der Südhälfte des chinesischen Reiches,
welche dort als Urbewohner gelten, sollen ebenfalls zur Thaïgruppe
1) Die Städtenamen Thashilhúnpo und Tassisudon werden beispielsweise
geschrieben b Kras shis lhun po und b Kras shis chhos krong. v. Schlagint-
weit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 44.
2) Whitney, Language and the study of language. p. 337.
3) v. Schlagintweit, l. c. S. 46.
4) S. oben S. 121.
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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/401>, abgerufen am 16.07.2024.
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