Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.Die dualistischen Religionen. Schwierigkeiten bewältigen, die sich der Vorstellung widersetzen,dass aus einer Hand das Erfreuliche und das Gefürchtete hervor- gegangen sein solle. Wir stossen in der Geschichte wie in der Schöpfung auf Widersprüche, die sich mit der Annahme einer gütigen und gerechten Weltordnung schwer vereinigen lassen. Derselbe Gott, der das erhabene Firmament mit seinen Licht- reizen, der alle Lieblichkeiten der Erde, die stillen Blumen, den Thau mit seinen Farbenblitzen, das Kinderauge erschuf, erfüllte seine eigne Welt mit Fieber, mit Gift, mit Ungeziefer, mit Krieg, mit Grausamkeiten im Thierreich, wo oft das eine Geschöpf sich nicht entwickeln kann, ohne die Eingeweide eines andern unter Qualen aufzuzehren. Weit und mühsam ist der Weg zu der Erkenntniss eines Leibnitz, dass die sinnlich erfassbare Welt mit ihren Nacht- seiten nicht sowohl nach menschlichem Ermessen die beste, son- dern unter den möglichen Welten nur die beste sein möge 1). Menschen mit ungeschultem Denkvermögen gelangen nie zur Ein- sicht, dass alles Ungemach doch nur eine Beschränkung der Süssig- keit des Daseins ist und unersättlich im Geniessen, fragen sie, weshalb die Lebensfreuden überhaupt gestört, beschränkt oder beendigt werden sollen. Noch weniger erkennen sie, dass selbst der leibliche Schmerz in einer Mehrzahl von Fällen nichts anderes als ein freilich unerbetener, aber gewissenhafter Warner vor nahen- den Gefahren ist, welche unser Leben oder unsre Gesundheit be- drohen. Aus der Verlegenheit, Wohlbehagen und Unbehagen aus einer 1) Tentam. Theodic. Pars II. § 168. § 194. § 206. 2) Roskoff, Geschichte des Teufels. Bd. 1. S. 47.
Die dualistischen Religionen. Schwierigkeiten bewältigen, die sich der Vorstellung widersetzen,dass aus einer Hand das Erfreuliche und das Gefürchtete hervor- gegangen sein solle. Wir stossen in der Geschichte wie in der Schöpfung auf Widersprüche, die sich mit der Annahme einer gütigen und gerechten Weltordnung schwer vereinigen lassen. Derselbe Gott, der das erhabene Firmament mit seinen Licht- reizen, der alle Lieblichkeiten der Erde, die stillen Blumen, den Thau mit seinen Farbenblitzen, das Kinderauge erschuf, erfüllte seine eigne Welt mit Fieber, mit Gift, mit Ungeziefer, mit Krieg, mit Grausamkeiten im Thierreich, wo oft das eine Geschöpf sich nicht entwickeln kann, ohne die Eingeweide eines andern unter Qualen aufzuzehren. Weit und mühsam ist der Weg zu der Erkenntniss eines Leibnitz, dass die sinnlich erfassbare Welt mit ihren Nacht- seiten nicht sowohl nach menschlichem Ermessen die beste, son- dern unter den möglichen Welten nur die beste sein möge 1). Menschen mit ungeschultem Denkvermögen gelangen nie zur Ein- sicht, dass alles Ungemach doch nur eine Beschränkung der Süssig- keit des Daseins ist und unersättlich im Geniessen, fragen sie, weshalb die Lebensfreuden überhaupt gestört, beschränkt oder beendigt werden sollen. Noch weniger erkennen sie, dass selbst der leibliche Schmerz in einer Mehrzahl von Fällen nichts anderes als ein freilich unerbetener, aber gewissenhafter Warner vor nahen- den Gefahren ist, welche unser Leben oder unsre Gesundheit be- drohen. Aus der Verlegenheit, Wohlbehagen und Unbehagen aus einer 1) Tentam. Theodic. Pars II. § 168. § 194. § 206. 2) Roskoff, Geschichte des Teufels. Bd. 1. S. 47.
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Die dualistischen Religionen.
Schwierigkeiten bewältigen, die sich der Vorstellung widersetzen,
dass aus einer Hand das Erfreuliche und das Gefürchtete hervor-
gegangen sein solle. Wir stossen in der Geschichte wie in der
Schöpfung auf Widersprüche, die sich mit der Annahme einer
gütigen und gerechten Weltordnung schwer vereinigen lassen.
Derselbe Gott, der das erhabene Firmament mit seinen Licht-
reizen, der alle Lieblichkeiten der Erde, die stillen Blumen, den
Thau mit seinen Farbenblitzen, das Kinderauge erschuf, erfüllte seine
eigne Welt mit Fieber, mit Gift, mit Ungeziefer, mit Krieg, mit
Grausamkeiten im Thierreich, wo oft das eine Geschöpf sich nicht
entwickeln kann, ohne die Eingeweide eines andern unter Qualen
aufzuzehren. Weit und mühsam ist der Weg zu der Erkenntniss
eines Leibnitz, dass die sinnlich erfassbare Welt mit ihren Nacht-
seiten nicht sowohl nach menschlichem Ermessen die beste, son-
dern unter den möglichen Welten nur die beste sein möge 1).
Menschen mit ungeschultem Denkvermögen gelangen nie zur Ein-
sicht, dass alles Ungemach doch nur eine Beschränkung der Süssig-
keit des Daseins ist und unersättlich im Geniessen, fragen sie,
weshalb die Lebensfreuden überhaupt gestört, beschränkt oder
beendigt werden sollen. Noch weniger erkennen sie, dass selbst
der leibliche Schmerz in einer Mehrzahl von Fällen nichts anderes
als ein freilich unerbetener, aber gewissenhafter Warner vor nahen-
den Gefahren ist, welche unser Leben oder unsre Gesundheit be-
drohen.
Aus der Verlegenheit, Wohlbehagen und Unbehagen aus einer
Quelle ableiten zu sollen, haben sich alle Völkerstämme auf früheren
Stufen der geistigen Entwickelung damit geholfen, dass sie die
Gegensätze auf unsichtbare Wesen übertrugen und neben freund-
lichen Beschützern sich auch von einer Schaar von Schadenstiftern
umlauert wähnten. Sobald diese Schöpfung der Einbildungskraft
vollzogen war, konnte nun die Veredelung des Menschen ver-
schiedene Stufen durchlaufen. Auf der ersten und niedrigsten wird
eine Versöhnung der unsichtbaren Bedränger versucht. In einem
Hymnus der Madagassen werden Zamhor und Niang als Welt-
erschaffer angerufen und hinzugefügt, dass an Zamhor keine Gebete
gerichtet würden, da ja der gütige Gott deren nicht bedürfe 2).
1) Tentam. Theodic. Pars II. § 168. § 194. § 206.
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