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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Koluschen an der Küste des jetzigen Gebietes Alaska, sowie be
ihren Nachbarn, den Haidah der Charlotteinseln. Hier wie dorti
führen die Familien ihre Wappen, die aus Thierbildern bestehen1).
Bei den südlicher sitzenden Stämmen der Nordwestküste Amerikas
wurde die adelige Geburt an der künstlichen Abflachung des
Kopfes erkannt, denn diese Auszeichnung gebührte nur, wie wir
gesehen haben, den Freigeborenen2). Die Irokesen duldeten keine
Standesunterschiede, die Algonkinen und ihre südlichen Nachbarn
dagegen sonderten sich streng in Edle, Gemeine und Sklaven3).
In Südamerika gründeten die Sonnensöhne Perus in ihrem Reiche
einen doppelten Adel, denn ausser den zahlreichen Incas oder
Abkömmlingen des königlichen Blutes4), setzten sie in den er-
oberten Provinzen die Curacas oder Ortshäuptlinge als Obrigkeiten
ein, denen verstattet wurde sich das Ohr zu durchbohren, wie die
Sonnenkinder5). Endlich finden wir bei den Guaranistämmen und
bei den Abiponen am rechten Ufer des Paraguay eine scharfe
Unterscheidung zwischen Leuten vornehmer und niederer Abkunft.
Alte Frauen, berichtet Dobrizhoffer, deren Reichthum nur in den
Runzeln ihrer Gesichter bestand, rühmten sich mit hohen Worten,
dass sie nicht von gemeinen Eltern abstammten. Im Gespräche
mit Adeligen wurden allen Zeit- und Hauptwörtern die Sylben in
oder en hinzugefügt, je nachdem die angeredete vornehme Person
ein Mann oder eine Frau war6).

9. Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.

Auf allen Gesittungsstufen und bei allen Menschenstämmen
werden religiöse Empfindungen stets von dem gleichen innern
Drang erregt, nämlich von dem Bedürfniss, für jede Erscheinung
und Begebenheit eine Ursache oder einen Urheber zu erspähen.

1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329. Ausland 1868. S. 957.
2) S. oben S. 23.
3) Lafitau, Moeurs des sauvages ameriquains. Paris 1724. tom. I, p. 563.
4) Clements Markham vermuthet, dass der Incatitel ursprünglich nicht
blos dem Herrscherhause, sondern allen Stammhäuptern des Incavolkes zuge-
kommen sei. Journal of the R. Geogr. Soc. London 1871. vol. XCI. p. 288.
5) Garcilasso, Commentarios, lib. I, cap. 21 u. 22.
6) Geschichte der Abiponer. Wien 1783. Bd. 2. S. 128. S. 236.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Koluschen an der Küste des jetzigen Gebietes Alaska, sowie be
ihren Nachbarn, den Haidah der Charlotteinseln. Hier wie dorti
führen die Familien ihre Wappen, die aus Thierbildern bestehen1).
Bei den südlicher sitzenden Stämmen der Nordwestküste Amerikas
wurde die adelige Geburt an der künstlichen Abflachung des
Kopfes erkannt, denn diese Auszeichnung gebührte nur, wie wir
gesehen haben, den Freigeborenen2). Die Irokesen duldeten keine
Standesunterschiede, die Algonkinen und ihre südlichen Nachbarn
dagegen sonderten sich streng in Edle, Gemeine und Sklaven3).
In Südamerika gründeten die Sonnensöhne Perus in ihrem Reiche
einen doppelten Adel, denn ausser den zahlreichen Incas oder
Abkömmlingen des königlichen Blutes4), setzten sie in den er-
oberten Provinzen die Curacas oder Ortshäuptlinge als Obrigkeiten
ein, denen verstattet wurde sich das Ohr zu durchbohren, wie die
Sonnenkinder5). Endlich finden wir bei den Guaranistämmen und
bei den Abiponen am rechten Ufer des Paraguay eine scharfe
Unterscheidung zwischen Leuten vornehmer und niederer Abkunft.
Alte Frauen, berichtet Dobrizhoffer, deren Reichthum nur in den
Runzeln ihrer Gesichter bestand, rühmten sich mit hohen Worten,
dass sie nicht von gemeinen Eltern abstammten. Im Gespräche
mit Adeligen wurden allen Zeit- und Hauptwörtern die Sylben in
oder en hinzugefügt, je nachdem die angeredete vornehme Person
ein Mann oder eine Frau war6).

9. Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.

Auf allen Gesittungsstufen und bei allen Menschenstämmen
werden religiöse Empfindungen stets von dem gleichen innern
Drang erregt, nämlich von dem Bedürfniss, für jede Erscheinung
und Begebenheit eine Ursache oder einen Urheber zu erspähen.

1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329. Ausland 1868. S. 957.
2) S. oben S. 23.
3) Lafitau, Moeurs des sauvages amériquains. Paris 1724. tom. I, p. 563.
4) Clements Markham vermuthet, dass der Incatitel ursprünglich nicht
blos dem Herrscherhause, sondern allen Stammhäuptern des Incavolkes zuge-
kommen sei. Journal of the R. Geogr. Soc. London 1871. vol. XCI. p. 288.
5) Garcilasso, Commentarios, lib. I, cap. 21 u. 22.
6) Geschichte der Abiponer. Wien 1783. Bd. 2. S. 128. S. 236.
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[255/0273] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Koluschen an der Küste des jetzigen Gebietes Alaska, sowie be ihren Nachbarn, den Haidah der Charlotteinseln. Hier wie dorti führen die Familien ihre Wappen, die aus Thierbildern bestehen 1). Bei den südlicher sitzenden Stämmen der Nordwestküste Amerikas wurde die adelige Geburt an der künstlichen Abflachung des Kopfes erkannt, denn diese Auszeichnung gebührte nur, wie wir gesehen haben, den Freigeborenen 2). Die Irokesen duldeten keine Standesunterschiede, die Algonkinen und ihre südlichen Nachbarn dagegen sonderten sich streng in Edle, Gemeine und Sklaven 3). In Südamerika gründeten die Sonnensöhne Perus in ihrem Reiche einen doppelten Adel, denn ausser den zahlreichen Incas oder Abkömmlingen des königlichen Blutes 4), setzten sie in den er- oberten Provinzen die Curacas oder Ortshäuptlinge als Obrigkeiten ein, denen verstattet wurde sich das Ohr zu durchbohren, wie die Sonnenkinder 5). Endlich finden wir bei den Guaranistämmen und bei den Abiponen am rechten Ufer des Paraguay eine scharfe Unterscheidung zwischen Leuten vornehmer und niederer Abkunft. Alte Frauen, berichtet Dobrizhoffer, deren Reichthum nur in den Runzeln ihrer Gesichter bestand, rühmten sich mit hohen Worten, dass sie nicht von gemeinen Eltern abstammten. Im Gespräche mit Adeligen wurden allen Zeit- und Hauptwörtern die Sylben in oder en hinzugefügt, je nachdem die angeredete vornehme Person ein Mann oder eine Frau war 6). 9. Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Auf allen Gesittungsstufen und bei allen Menschenstämmen werden religiöse Empfindungen stets von dem gleichen innern Drang erregt, nämlich von dem Bedürfniss, für jede Erscheinung und Begebenheit eine Ursache oder einen Urheber zu erspähen. 1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329. Ausland 1868. S. 957. 2) S. oben S. 23. 3) Lafitau, Moeurs des sauvages amériquains. Paris 1724. tom. I, p. 563. 4) Clements Markham vermuthet, dass der Incatitel ursprünglich nicht blos dem Herrscherhause, sondern allen Stammhäuptern des Incavolkes zuge- kommen sei. Journal of the R. Geogr. Soc. London 1871. vol. XCI. p. 288. 5) Garcilasso, Commentarios, lib. I, cap. 21 u. 22. 6) Geschichte der Abiponer. Wien 1783. Bd. 2. S. 128. S. 236.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/273>, abgerufen am 19.11.2024.