DIE TECHNISCHEN, BUERGERLICHEN UND RELIGIOESEN ENTWICKLUNGSSTUFEN.
1. Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
Als die älteren und neueren überseeischen Entdeckungen den erstaunten Europäern die Zustände sogenannter wilder Völker nahe gerückt hatten, fehlte es nicht an überspannten Gemüthern, welche sich unser Geschlecht bei seinem ersten Auftreten mit den höchsten körperlichen, geistigen und sittlichen Vorzügen ausgestattet dachten und ihren Mangel bei den farbigen Wald- und Inselbewohnern einem verschuldeten Herabsinken aus jenen goldenen Zuständen zuschrieben. Zur Widerlegung dieser längst unschädlich gewor- denen Verstandesverirrung wird es heutigen Tages wohl genügen, hier auf die Sinnesänderung eines so verdienten Fachgelehrten, wie Hrn. v. Martius zu verweisen. Auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Freiburg im Jahre 1838 konnte er noch äussern: "Jeder Tag, den ich noch unter den Indianern Brasiliens zubrachte, vermehrte in mir die Ueberzeugung, dass sie einstens ganz anders gewesen und dass im Verlauf dunkler Jahrhunderte mancherlei Katastrophen über sie hereingebrochen seien, die sie zu ihrem der- maligen Zustand, zu einer ganz eigenthümlichen Verkümmerung und Entartung herabgebracht haben." Ehe noch dreissig Jahre voll abgelaufen waren, hören wir dagegen aus seinem Munde über die nämlichen Völkerschaften die Worte: "Es liegen bis jetzt keine Gründe vor, dass der dermalige barbarische Zustand in diesen Gegenden ein secundärer, dass ihm hier ein anderer von höherer Gesittung vorausgegangen, dass dieser Tummelplatz ephemerer unselbständiger Haufen jemals Schauplatz eines gebildeten Volkes gewesen sei 1)".
Ebenso wenig haben sich die Anschauungen der Reisenden
1)
DIE TECHNISCHEN, BUERGERLICHEN UND RELIGIOESEN ENTWICKLUNGSSTUFEN.
1. Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
Als die älteren und neueren überseeischen Entdeckungen den erstaunten Europäern die Zustände sogenannter wilder Völker nahe gerückt hatten, fehlte es nicht an überspannten Gemüthern, welche sich unser Geschlecht bei seinem ersten Auftreten mit den höchsten körperlichen, geistigen und sittlichen Vorzügen ausgestattet dachten und ihren Mangel bei den farbigen Wald- und Inselbewohnern einem verschuldeten Herabsinken aus jenen goldenen Zuständen zuschrieben. Zur Widerlegung dieser längst unschädlich gewor- denen Verstandesverirrung wird es heutigen Tages wohl genügen, hier auf die Sinnesänderung eines so verdienten Fachgelehrten, wie Hrn. v. Martius zu verweisen. Auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Freiburg im Jahre 1838 konnte er noch äussern: „Jeder Tag, den ich noch unter den Indianern Brasiliens zubrachte, vermehrte in mir die Ueberzeugung, dass sie einstens ganz anders gewesen und dass im Verlauf dunkler Jahrhunderte mancherlei Katastrophen über sie hereingebrochen seien, die sie zu ihrem der- maligen Zustand, zu einer ganz eigenthümlichen Verkümmerung und Entartung herabgebracht haben.“ Ehe noch dreissig Jahre voll abgelaufen waren, hören wir dagegen aus seinem Munde über die nämlichen Völkerschaften die Worte: „Es liegen bis jetzt keine Gründe vor, dass der dermalige barbarische Zustand in diesen Gegenden ein secundärer, dass ihm hier ein anderer von höherer Gesittung vorausgegangen, dass dieser Tummelplatz ephemerer unselbständiger Haufen jemals Schauplatz eines gebildeten Volkes gewesen sei 1)“.
Ebenso wenig haben sich die Anschauungen der Reisenden
1)
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DIE TECHNISCHEN, BUERGERLICHEN UND
RELIGIOESEN ENTWICKLUNGSSTUFEN.
1. Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
Als die älteren und neueren überseeischen Entdeckungen den
erstaunten Europäern die Zustände sogenannter wilder Völker nahe
gerückt hatten, fehlte es nicht an überspannten Gemüthern, welche
sich unser Geschlecht bei seinem ersten Auftreten mit den höchsten
körperlichen, geistigen und sittlichen Vorzügen ausgestattet dachten
und ihren Mangel bei den farbigen Wald- und Inselbewohnern
einem verschuldeten Herabsinken aus jenen goldenen Zuständen
zuschrieben. Zur Widerlegung dieser längst unschädlich gewor-
denen Verstandesverirrung wird es heutigen Tages wohl genügen,
hier auf die Sinnesänderung eines so verdienten Fachgelehrten, wie
Hrn. v. Martius zu verweisen. Auf der Versammlung deutscher
Naturforscher zu Freiburg im Jahre 1838 konnte er noch äussern:
„Jeder Tag, den ich noch unter den Indianern Brasiliens zubrachte,
vermehrte in mir die Ueberzeugung, dass sie einstens ganz anders
gewesen und dass im Verlauf dunkler Jahrhunderte mancherlei
Katastrophen über sie hereingebrochen seien, die sie zu ihrem der-
maligen Zustand, zu einer ganz eigenthümlichen Verkümmerung
und Entartung herabgebracht haben.“ Ehe noch dreissig Jahre
voll abgelaufen waren, hören wir dagegen aus seinem Munde über
die nämlichen Völkerschaften die Worte: „Es liegen bis jetzt keine
Gründe vor, dass der dermalige barbarische Zustand in diesen
Gegenden ein secundärer, dass ihm hier ein anderer von höherer
Gesittung vorausgegangen, dass dieser Tummelplatz ephemerer
unselbständiger Haufen jemals Schauplatz eines gebildeten Volkes
gewesen sei 1)“.
Ebenso wenig haben sich die Anschauungen der Reisenden
1)
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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. [137]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/155>, abgerufen am 19.11.2024.
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