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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
von jedem Kinde aufs Neue wieder geschaffen, nämlich die Laute
Papa und Mama. Der anfängliche Ma- oder Pa-Laut des Kindes
ist durchaus kein Sprechversuch, sondern nur eine Uebung der
Sprachwerkzeuge, hervorgegangen aus einem inneren physischen
Drange, ohne Absicht und Bewusstsein, um nichts besser oder
höher als der Schütt! schütt!-Ruf unsrer Buchfinken. Die Eltern-
liebe hat aber, so lange Menschen auf Erden wandeln, stets in
süsser Täuschung das Kind missverstanden, als sei ein Lockruf
beabsichtigt gewesen, als verlange das Kind nach Vater oder
Mutter. Dass nun diese ersten Uebungen der Stimmwerkzeuge den
Laut des künftigen Wortes, die Deutung der Eltern aber den Sinn
der Laute bestimmten, erkennen wir daraus, dass in einer Anzahl
von Sprachen der ba-Laut für Vater, der ma-Laut für Mutter gilt
und in einer gleichen Anzahl das Umgekehrte eintritt 1). Andere
Kinderlaute für Mutter sind aithei (gothisch) und atta (sanskr.),
letzterer auch für die ältere Schwester giltig. Atta steht im Latein
und Griechischen, auch im Gothischen für Väterchen, wohin auch
aette für Grossvater in deutschen Mundarten gehört 2). Das
lallende Kind hat nun verschiedne Stufen des Sprachverständnisses
zu ersteigen, denn es muss zunächst die Erfahrung erwerben, dass
bei seinen ma- oder ba-Uebungen entweder die Eltern herbeikom-
men oder den gegenwärtigen Freude bereitet wird. Dann erst wird
der Laut von dem Kinde absichtsvoll geäussert, aber erst viel
später und nicht ohne entgegenkommende Bemühung der Eltern
gelingt es endlich, dass der eine Laut für den Vater, der andere
für die Mutter als Lockruf angewendet werde. Monate, ja Jahre
verstreichen, ehe hierauf die Erkenntniss durchbricht, dass Mama
und Papa nicht Eigennamen sind, sondern für alle Kinder zu-
nächst die Ernährer und Erzieher bezeichnen. Erst bei einer
späteren Reife entdeckt das Kind weiter, dass jene Namen den
Erzeugern zukommen und den wahren vollen Inhalt erfassen selbst
die Erwachsenen erst dann, wenn sie die Freuden und Sorgen von
Vätern oder Müttern gekostet haben. Wenn auch nicht vollständig,
so doch annähernd gleicht der Entwicklungsgang im zarten Lebens-
alter den ersten Sprechversuchen unsres Geschlechts.

1) Eine Musterung der Vater- und Mutterrufe aus Sprachen aller Welt-
theile findet sich bei d'Orbigny, l'Homme americain. p. 79.
2) A. Bacmeister in der Allgem. Zeitung. 1871. Beilage 29. Octbr
S. 5339.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
von jedem Kinde aufs Neue wieder geschaffen, nämlich die Laute
Papa und Mama. Der anfängliche Ma- oder Pa-Laut des Kindes
ist durchaus kein Sprechversuch, sondern nur eine Uebung der
Sprachwerkzeuge, hervorgegangen aus einem inneren physischen
Drange, ohne Absicht und Bewusstsein, um nichts besser oder
höher als der Schütt! schütt!-Ruf unsrer Buchfinken. Die Eltern-
liebe hat aber, so lange Menschen auf Erden wandeln, stets in
süsser Täuschung das Kind missverstanden, als sei ein Lockruf
beabsichtigt gewesen, als verlange das Kind nach Vater oder
Mutter. Dass nun diese ersten Uebungen der Stimmwerkzeuge den
Laut des künftigen Wortes, die Deutung der Eltern aber den Sinn
der Laute bestimmten, erkennen wir daraus, dass in einer Anzahl
von Sprachen der ba-Laut für Vater, der ma-Laut für Mutter gilt
und in einer gleichen Anzahl das Umgekehrte eintritt 1). Andere
Kinderlaute für Mutter sind aithei (gothisch) und atta (sanskr.),
letzterer auch für die ältere Schwester giltig. Atta steht im Latein
und Griechischen, auch im Gothischen für Väterchen, wohin auch
aette für Grossvater in deutschen Mundarten gehört 2). Das
lallende Kind hat nun verschiedne Stufen des Sprachverständnisses
zu ersteigen, denn es muss zunächst die Erfahrung erwerben, dass
bei seinen ma- oder ba-Uebungen entweder die Eltern herbeikom-
men oder den gegenwärtigen Freude bereitet wird. Dann erst wird
der Laut von dem Kinde absichtsvoll geäussert, aber erst viel
später und nicht ohne entgegenkommende Bemühung der Eltern
gelingt es endlich, dass der eine Laut für den Vater, der andere
für die Mutter als Lockruf angewendet werde. Monate, ja Jahre
verstreichen, ehe hierauf die Erkenntniss durchbricht, dass Mama
und Papa nicht Eigennamen sind, sondern für alle Kinder zu-
nächst die Ernährer und Erzieher bezeichnen. Erst bei einer
späteren Reife entdeckt das Kind weiter, dass jene Namen den
Erzeugern zukommen und den wahren vollen Inhalt erfassen selbst
die Erwachsenen erst dann, wenn sie die Freuden und Sorgen von
Vätern oder Müttern gekostet haben. Wenn auch nicht vollständig,
so doch annähernd gleicht der Entwicklungsgang im zarten Lebens-
alter den ersten Sprechversuchen unsres Geschlechts.

1) Eine Musterung der Vater- und Mutterrufe aus Sprachen aller Welt-
theile findet sich bei d’Orbigny, l’Homme américain. p. 79.
2) A. Bacmeister in der Allgem. Zeitung. 1871. Beilage 29. Octbr
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[114/0132] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. von jedem Kinde aufs Neue wieder geschaffen, nämlich die Laute Papa und Mama. Der anfängliche Ma- oder Pa-Laut des Kindes ist durchaus kein Sprechversuch, sondern nur eine Uebung der Sprachwerkzeuge, hervorgegangen aus einem inneren physischen Drange, ohne Absicht und Bewusstsein, um nichts besser oder höher als der Schütt! schütt!-Ruf unsrer Buchfinken. Die Eltern- liebe hat aber, so lange Menschen auf Erden wandeln, stets in süsser Täuschung das Kind missverstanden, als sei ein Lockruf beabsichtigt gewesen, als verlange das Kind nach Vater oder Mutter. Dass nun diese ersten Uebungen der Stimmwerkzeuge den Laut des künftigen Wortes, die Deutung der Eltern aber den Sinn der Laute bestimmten, erkennen wir daraus, dass in einer Anzahl von Sprachen der ba-Laut für Vater, der ma-Laut für Mutter gilt und in einer gleichen Anzahl das Umgekehrte eintritt 1). Andere Kinderlaute für Mutter sind aithei (gothisch) und atta (sanskr.), letzterer auch für die ältere Schwester giltig. Atta steht im Latein und Griechischen, auch im Gothischen für Väterchen, wohin auch aette für Grossvater in deutschen Mundarten gehört 2). Das lallende Kind hat nun verschiedne Stufen des Sprachverständnisses zu ersteigen, denn es muss zunächst die Erfahrung erwerben, dass bei seinen ma- oder ba-Uebungen entweder die Eltern herbeikom- men oder den gegenwärtigen Freude bereitet wird. Dann erst wird der Laut von dem Kinde absichtsvoll geäussert, aber erst viel später und nicht ohne entgegenkommende Bemühung der Eltern gelingt es endlich, dass der eine Laut für den Vater, der andere für die Mutter als Lockruf angewendet werde. Monate, ja Jahre verstreichen, ehe hierauf die Erkenntniss durchbricht, dass Mama und Papa nicht Eigennamen sind, sondern für alle Kinder zu- nächst die Ernährer und Erzieher bezeichnen. Erst bei einer späteren Reife entdeckt das Kind weiter, dass jene Namen den Erzeugern zukommen und den wahren vollen Inhalt erfassen selbst die Erwachsenen erst dann, wenn sie die Freuden und Sorgen von Vätern oder Müttern gekostet haben. Wenn auch nicht vollständig, so doch annähernd gleicht der Entwicklungsgang im zarten Lebens- alter den ersten Sprechversuchen unsres Geschlechts. 1) Eine Musterung der Vater- und Mutterrufe aus Sprachen aller Welt- theile findet sich bei d’Orbigny, l’Homme américain. p. 79. 2) A. Bacmeister in der Allgem. Zeitung. 1871. Beilage 29. Octbr S. 5339.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/132>, abgerufen am 23.12.2024.