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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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überhörte und übersah, war die Erschütterung
davon so sichtbar. Auch Linda nahm sie wahr.
"Sprich nur aus Dein Weh, (sagte sie,) ich
liebe sie ja auch." -- "Ich denke an die Le¬
bendigen (sagt' er, sich zusammenfassend und
blickte scheu nicht auf den Blumengarten, son¬
dern auf die sonnentrunkne Abendgegend,) --
kann man denn genug auf der Erde vergeben
und errathen? -- Linda, o wie vergiebst Du
mir heute!"

"Freund, (sagte sie,) wenn Ihr sündigt,
sollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬
hin seyd noch still!" Er sah sie bedeutend an:
"hast Du nicht schon vergeben und ich noch
nicht? -- Aber wüßtest Du, wie ich in diesen
Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe
innigst bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬
genheit in die Zukunft brachte -- ach, kann
ich Dir denn alles sagen an diesem Orte?" --
Zum Glück hörte sie -- gleich andern Frauen,
weniger auf Worte als auf Minen, Winke und
Thaten merkend -- mehr mit dem geistigen als
leiblichen Ohre und trat nicht in den so nahe
aufgesperrten Abgrund seiner Worte. So spiel

Titan IV. B b

überhörte und überſah, war die Erſchütterung
davon ſo ſichtbar. Auch Linda nahm ſie wahr.
„Sprich nur aus Dein Weh, (ſagte ſie,) ich
liebe ſie ja auch.“ — „Ich denke an die Le¬
bendigen (ſagt' er, ſich zuſammenfaſſend und
blickte ſcheu nicht auf den Blumengarten, ſon¬
dern auf die ſonnentrunkne Abendgegend,) —
kann man denn genug auf der Erde vergeben
und errathen? — Linda, o wie vergiebſt Du
mir heute!“

„Freund, (ſagte ſie,) wenn Ihr ſündigt,
ſollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬
hin ſeyd noch ſtill!“ Er ſah ſie bedeutend an:
„haſt Du nicht ſchon vergeben und ich noch
nicht? — Aber wüßteſt Du, wie ich in dieſen
Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe
innigſt bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬
genheit in die Zukunft brachte — ach, kann
ich Dir denn alles ſagen an dieſem Orte?“ —
Zum Glück hörte ſie — gleich andern Frauen,
weniger auf Worte als auf Minen, Winke und
Thaten merkend — mehr mit dem geiſtigen als
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Titan IV. B b
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[385/0397] überhörte und überſah, war die Erſchütterung davon ſo ſichtbar. Auch Linda nahm ſie wahr. „Sprich nur aus Dein Weh, (ſagte ſie,) ich liebe ſie ja auch.“ — „Ich denke an die Le¬ bendigen (ſagt' er, ſich zuſammenfaſſend und blickte ſcheu nicht auf den Blumengarten, ſon¬ dern auf die ſonnentrunkne Abendgegend,) — kann man denn genug auf der Erde vergeben und errathen? — Linda, o wie vergiebſt Du mir heute!“ „Freund, (ſagte ſie,) wenn Ihr ſündigt, ſollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬ hin ſeyd noch ſtill!“ Er ſah ſie bedeutend an: „haſt Du nicht ſchon vergeben und ich noch nicht? — Aber wüßteſt Du, wie ich in dieſen Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe innigſt bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬ genheit in die Zukunft brachte — ach, kann ich Dir denn alles ſagen an dieſem Orte?“ — Zum Glück hörte ſie — gleich andern Frauen, weniger auf Worte als auf Minen, Winke und Thaten merkend — mehr mit dem geiſtigen als leiblichen Ohre und trat nicht in den ſo nahe aufgeſperrten Abgrund ſeiner Worte. So ſpiel Titan IV. B b

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/397>, abgerufen am 25.11.2024.