überhörte und übersah, war die Erschütterung davon so sichtbar. Auch Linda nahm sie wahr. "Sprich nur aus Dein Weh, (sagte sie,) ich liebe sie ja auch." -- "Ich denke an die Le¬ bendigen (sagt' er, sich zusammenfassend und blickte scheu nicht auf den Blumengarten, son¬ dern auf die sonnentrunkne Abendgegend,) -- kann man denn genug auf der Erde vergeben und errathen? -- Linda, o wie vergiebst Du mir heute!"
"Freund, (sagte sie,) wenn Ihr sündigt, sollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬ hin seyd noch still!" Er sah sie bedeutend an: "hast Du nicht schon vergeben und ich noch nicht? -- Aber wüßtest Du, wie ich in diesen Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe innigst bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬ genheit in die Zukunft brachte -- ach, kann ich Dir denn alles sagen an diesem Orte?" -- Zum Glück hörte sie -- gleich andern Frauen, weniger auf Worte als auf Minen, Winke und Thaten merkend -- mehr mit dem geistigen als leiblichen Ohre und trat nicht in den so nahe aufgesperrten Abgrund seiner Worte. So spiel
Titan IV. B b
überhörte und überſah, war die Erſchütterung davon ſo ſichtbar. Auch Linda nahm ſie wahr. „Sprich nur aus Dein Weh, (ſagte ſie,) ich liebe ſie ja auch.“ — „Ich denke an die Le¬ bendigen (ſagt' er, ſich zuſammenfaſſend und blickte ſcheu nicht auf den Blumengarten, ſon¬ dern auf die ſonnentrunkne Abendgegend,) — kann man denn genug auf der Erde vergeben und errathen? — Linda, o wie vergiebſt Du mir heute!“
„Freund, (ſagte ſie,) wenn Ihr ſündigt, ſollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬ hin ſeyd noch ſtill!“ Er ſah ſie bedeutend an: „haſt Du nicht ſchon vergeben und ich noch nicht? — Aber wüßteſt Du, wie ich in dieſen Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe innigſt bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬ genheit in die Zukunft brachte — ach, kann ich Dir denn alles ſagen an dieſem Orte?“ — Zum Glück hörte ſie — gleich andern Frauen, weniger auf Worte als auf Minen, Winke und Thaten merkend — mehr mit dem geiſtigen als leiblichen Ohre und trat nicht in den ſo nahe aufgeſperrten Abgrund ſeiner Worte. So ſpiel
Titan IV. B b
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0397"n="385"/>
überhörte und überſah, war die Erſchütterung<lb/>
davon ſo ſichtbar. Auch Linda nahm ſie wahr.<lb/>„Sprich nur aus Dein Weh, (ſagte ſie,) ich<lb/>
liebe <hirendition="#g">ſie</hi> ja auch.“—„Ich denke an die Le¬<lb/>
bendigen (ſagt' er, ſich zuſammenfaſſend und<lb/>
blickte ſcheu nicht auf den Blumengarten, ſon¬<lb/>
dern auf die ſonnentrunkne Abendgegend,) —<lb/>
kann man denn genug auf der Erde vergeben<lb/>
und errathen? — Linda, o wie vergiebſt Du<lb/>
mir heute!“</p><lb/><p>„Freund, (ſagte ſie,) wenn Ihr ſündigt,<lb/>ſollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬<lb/>
hin ſeyd noch ſtill!“ Er ſah ſie bedeutend an:<lb/>„haſt Du nicht ſchon vergeben und ich noch<lb/>
nicht? — Aber wüßteſt Du, wie ich in dieſen<lb/>
Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe<lb/>
innigſt bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬<lb/>
genheit in die Zukunft brachte — ach, kann<lb/>
ich Dir denn alles ſagen an dieſem Orte?“—<lb/>
Zum Glück hörte ſie — gleich andern Frauen,<lb/>
weniger auf Worte als auf Minen, Winke und<lb/>
Thaten merkend — mehr mit dem geiſtigen als<lb/>
leiblichen Ohre und trat nicht in den ſo nahe<lb/>
aufgeſperrten Abgrund ſeiner Worte. So ſpiel<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Titan <hirendition="#aq">IV</hi>. B b<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[385/0397]
überhörte und überſah, war die Erſchütterung
davon ſo ſichtbar. Auch Linda nahm ſie wahr.
„Sprich nur aus Dein Weh, (ſagte ſie,) ich
liebe ſie ja auch.“ — „Ich denke an die Le¬
bendigen (ſagt' er, ſich zuſammenfaſſend und
blickte ſcheu nicht auf den Blumengarten, ſon¬
dern auf die ſonnentrunkne Abendgegend,) —
kann man denn genug auf der Erde vergeben
und errathen? — Linda, o wie vergiebſt Du
mir heute!“
„Freund, (ſagte ſie,) wenn Ihr ſündigt,
ſollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬
hin ſeyd noch ſtill!“ Er ſah ſie bedeutend an:
„haſt Du nicht ſchon vergeben und ich noch
nicht? — Aber wüßteſt Du, wie ich in dieſen
Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe
innigſt bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬
genheit in die Zukunft brachte — ach, kann
ich Dir denn alles ſagen an dieſem Orte?“ —
Zum Glück hörte ſie — gleich andern Frauen,
weniger auf Worte als auf Minen, Winke und
Thaten merkend — mehr mit dem geiſtigen als
leiblichen Ohre und trat nicht in den ſo nahe
aufgeſperrten Abgrund ſeiner Worte. So ſpiel
Titan IV. B b
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/397>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.