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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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Zukunft durchwebte Vergangenheit waren sie
in den borromäischen Pallast, der diesen Tag
zum Glück ohne die Besitzer war, getreten; weil
Albano beide, auf Linda's Gesuch, in die Zim¬
mer führen sollte, wo er mit Severina erzogen
worden. Der Schloßwärter wollte sie, glau¬
bend, sie suchten nur Aussicht -- denn die Kind¬
heitszimmer lagen im fünften Stockwerk -- auf
das Dach hinaus bringen; er betheuerte, es
wären staubige Kinderstuben und seit undenkli¬
chen Jahren zugesperrt. Mühsam drehte der
Mann mit einem rostigen Schlüssel ein einge¬
rostetes Schloß auf. Sie traten ins bestäubte
helldunkle leere hohe Zimmer, worin eine leere
Wiege, ein Blumentopf mit einem gleich seiner
Erde vertrockneten sinesischen Rosenstöckchen, eine
Kinder-Zinn-Uhr, eine weibliche Spiel-Kü¬
che mit altmodischem Geschirr, eine gerollte glän¬
zende Klaviersaite, ein deutscher Kalender von
1772, viele schwarze Siegel mit bloßen antiken
Köpfen, ein ausgetrockneter Lianenzweig und
dergleichen verlohren umher lag. Der Mensch
sieht bewegt in die tiefe Zeit hinunter, wo seine
Lebensspindel fast noch nackt ohne Faden um¬

Zukunft durchwebte Vergangenheit waren ſie
in den borromäiſchen Pallaſt, der dieſen Tag
zum Glück ohne die Beſitzer war, getreten; weil
Albano beide, auf Linda's Geſuch, in die Zim¬
mer führen ſollte, wo er mit Severina erzogen
worden. Der Schloßwärter wollte ſie, glau¬
bend, ſie ſuchten nur Ausſicht — denn die Kind¬
heitszimmer lagen im fünften Stockwerk — auf
das Dach hinaus bringen; er betheuerte, es
wären ſtaubige Kinderſtuben und ſeit undenkli¬
chen Jahren zugeſperrt. Mühſam drehte der
Mann mit einem roſtigen Schlüſſel ein einge¬
roſtetes Schloß auf. Sie traten ins beſtäubte
helldunkle leere hohe Zimmer, worin eine leere
Wiege, ein Blumentopf mit einem gleich ſeiner
Erde vertrockneten ſineſiſchen Roſenſtöckchen, eine
Kinder-Zinn-Uhr, eine weibliche Spiel-Kü¬
che mit altmodiſchem Geſchirr, eine gerollte glän¬
zende Klavierſaite, ein deutſcher Kalender von
1772, viele ſchwarze Siegel mit bloßen antiken
Köpfen, ein ausgetrockneter Lianenzweig und
dergleichen verlohren umher lag. Der Menſch
ſieht bewegt in die tiefe Zeit hinunter, wo ſeine
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[233/0245] Zukunft durchwebte Vergangenheit waren ſie in den borromäiſchen Pallaſt, der dieſen Tag zum Glück ohne die Beſitzer war, getreten; weil Albano beide, auf Linda's Geſuch, in die Zim¬ mer führen ſollte, wo er mit Severina erzogen worden. Der Schloßwärter wollte ſie, glau¬ bend, ſie ſuchten nur Ausſicht — denn die Kind¬ heitszimmer lagen im fünften Stockwerk — auf das Dach hinaus bringen; er betheuerte, es wären ſtaubige Kinderſtuben und ſeit undenkli¬ chen Jahren zugeſperrt. Mühſam drehte der Mann mit einem roſtigen Schlüſſel ein einge¬ roſtetes Schloß auf. Sie traten ins beſtäubte helldunkle leere hohe Zimmer, worin eine leere Wiege, ein Blumentopf mit einem gleich ſeiner Erde vertrockneten ſineſiſchen Roſenſtöckchen, eine Kinder-Zinn-Uhr, eine weibliche Spiel-Kü¬ che mit altmodiſchem Geſchirr, eine gerollte glän¬ zende Klavierſaite, ein deutſcher Kalender von 1772, viele ſchwarze Siegel mit bloßen antiken Köpfen, ein ausgetrockneter Lianenzweig und dergleichen verlohren umher lag. Der Menſch ſieht bewegt in die tiefe Zeit hinunter, wo ſeine Lebensſpindel faſt noch nackt ohne Faden um¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/245>, abgerufen am 23.11.2024.