Sprachlos wandten sich die Menschen von dem Westen nach dem Ufer um. Die Schiffer fiengen wieder an zu sprechen. "Mache, (bat Linda ihre Freundinn leise,) daß Dein Bruder sich immer nach Abend wendet." Sie erfüllte die Bitte, ohne deren Grund sogleich zu erra¬ then. Immer sah Linda in sein schön beglänz¬ tes Angesicht. "Bitt' ihn wieder, (sagte sie zum zweitenmal,) es dämmert zu sehr und meine kranken Augen sehen ohne Licht so übel." Es geschah nicht; denn sie stiegen sogleich ans Ufer. Die Erde zitterte ihnen, da sie sie betra¬ ten, als ein Sangboden der seeligen Stunde nach. Albano war in sprachloser Rührung auf das geliebte Angesicht geheftet, das er bald wie¬ der verlassen sollte: "ich schreibe Ihnen," sagte sie unaufgefodert mit einem so rührenden Wi¬ derrufe der vorigen Drohung, daß er sich, wär' er nicht unter fremden Augen gewesen, dank¬ trunken auf ihre Hand, an ihr edles Herz ge¬ stürzet hätte. Das Scheiden und das Ende ei¬ nes harmonischen Tages wurde schwer, worin der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein Dreiklang gewesen. Jetzt schied Dian schon.
Sprachlos wandten ſich die Menſchen von dem Weſten nach dem Ufer um. Die Schiffer fiengen wieder an zu ſprechen. „Mache, (bat Linda ihre Freundinn leiſe,) daß Dein Bruder ſich immer nach Abend wendet.“ Sie erfüllte die Bitte, ohne deren Grund ſogleich zu erra¬ then. Immer ſah Linda in ſein ſchön beglänz¬ tes Angeſicht. „Bitt' ihn wieder, (ſagte ſie zum zweitenmal,) es dämmert zu ſehr und meine kranken Augen ſehen ohne Licht ſo übel.“ Es geſchah nicht; denn ſie ſtiegen ſogleich ans Ufer. Die Erde zitterte ihnen, da ſie ſie betra¬ ten, als ein Sangboden der ſeeligen Stunde nach. Albano war in ſprachloſer Rührung auf das geliebte Angeſicht geheftet, das er bald wie¬ der verlaſſen ſollte: „ich ſchreibe Ihnen,“ ſagte ſie unaufgefodert mit einem ſo rührenden Wi¬ derrufe der vorigen Drohung, daß er ſich, wär' er nicht unter fremden Augen geweſen, dank¬ trunken auf ihre Hand, an ihr edles Herz ge¬ ſtürzet hätte. Das Scheiden und das Ende ei¬ nes harmoniſchen Tages wurde ſchwer, worin der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein Dreiklang geweſen. Jetzt ſchied Dian ſchon.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0181"n="169"/><p>Sprachlos wandten ſich die Menſchen von<lb/>
dem Weſten nach dem Ufer um. Die Schiffer<lb/>
fiengen wieder an zu ſprechen. „Mache, (bat<lb/>
Linda ihre Freundinn leiſe,) daß Dein Bruder<lb/>ſich immer nach Abend wendet.“ Sie erfüllte<lb/>
die Bitte, ohne deren Grund ſogleich zu erra¬<lb/>
then. Immer ſah Linda in ſein ſchön beglänz¬<lb/>
tes Angeſicht. „Bitt' ihn wieder, (ſagte ſie<lb/>
zum zweitenmal,) es dämmert zu ſehr und<lb/>
meine kranken Augen ſehen ohne Licht ſo übel.“<lb/>
Es geſchah nicht; denn ſie ſtiegen ſogleich ans<lb/>
Ufer. Die Erde zitterte ihnen, da ſie ſie betra¬<lb/>
ten, als ein Sangboden der ſeeligen Stunde<lb/>
nach. Albano war in ſprachloſer Rührung auf<lb/>
das geliebte Angeſicht geheftet, das er bald wie¬<lb/>
der verlaſſen ſollte: „ich ſchreibe Ihnen,“ſagte<lb/>ſie unaufgefodert mit einem ſo rührenden Wi¬<lb/>
derrufe der vorigen Drohung, daß er ſich, wär'<lb/>
er nicht unter fremden Augen geweſen, dank¬<lb/>
trunken auf ihre Hand, an ihr edles Herz ge¬<lb/>ſtürzet hätte. Das Scheiden und das Ende ei¬<lb/>
nes harmoniſchen Tages wurde ſchwer, worin<lb/>
der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein<lb/>
Dreiklang geweſen. Jetzt ſchied Dian ſchon.<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[169/0181]
Sprachlos wandten ſich die Menſchen von
dem Weſten nach dem Ufer um. Die Schiffer
fiengen wieder an zu ſprechen. „Mache, (bat
Linda ihre Freundinn leiſe,) daß Dein Bruder
ſich immer nach Abend wendet.“ Sie erfüllte
die Bitte, ohne deren Grund ſogleich zu erra¬
then. Immer ſah Linda in ſein ſchön beglänz¬
tes Angeſicht. „Bitt' ihn wieder, (ſagte ſie
zum zweitenmal,) es dämmert zu ſehr und
meine kranken Augen ſehen ohne Licht ſo übel.“
Es geſchah nicht; denn ſie ſtiegen ſogleich ans
Ufer. Die Erde zitterte ihnen, da ſie ſie betra¬
ten, als ein Sangboden der ſeeligen Stunde
nach. Albano war in ſprachloſer Rührung auf
das geliebte Angeſicht geheftet, das er bald wie¬
der verlaſſen ſollte: „ich ſchreibe Ihnen,“ ſagte
ſie unaufgefodert mit einem ſo rührenden Wi¬
derrufe der vorigen Drohung, daß er ſich, wär'
er nicht unter fremden Augen geweſen, dank¬
trunken auf ihre Hand, an ihr edles Herz ge¬
ſtürzet hätte. Das Scheiden und das Ende ei¬
nes harmoniſchen Tages wurde ſchwer, worin
der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein
Dreiklang geweſen. Jetzt ſchied Dian ſchon.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/181>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.