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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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Hand -- um ihn war kein Laut und kein
Mensch. War alles der verwehte Wolkenzug
der Träume gewesen, das kurze Wirbeln und
Bilden in ihrem Zauberrauch?

Aber das Leben, die Wahrheit hatte ja so
lebendig an seiner Brust gebrannt; und die
Schwesterthränen lagen noch auf seinem Auge.
"Oder wären es nur meine Bruderthränen"
sagte sein verwirrter Geist, als er aufstand
und in der hellen Nacht nach Hause gieng.
Alles war so still als schlafe das Leben noch
fort -- er hörte sich und fürchtete, es zu we¬
cken -- er schauete seinen gehenden Körper an:
ja, dacht' er, dieses dichte um uns gewickelte
Bette spielt uns eben die Quaalen und Freu¬
den des Lebens zu. So wie wir schlafend un¬
ter herüberfallenden Bergen zu ersticken glau¬
ben, wenn das Deckbette sich auf unsere Lippen
überschlägt, oder über klebendes Gluth-Blech
zu schreiten, wenn es mit zu dicken Federn die
Füße drückt, oder als nackte Bettler zu frieren,
wenn es sich kühlend verschiebt: so wirft diese
Erde, dieser Leib in den siebzigjährigen Schlaf
des Unsterblichen Lichter und Klänge und Käl¬

Hand — um ihn war kein Laut und kein
Menſch. War alles der verwehte Wolkenzug
der Träume geweſen, das kurze Wirbeln und
Bilden in ihrem Zauberrauch?

Aber das Leben, die Wahrheit hatte ja ſo
lebendig an ſeiner Bruſt gebrannt; und die
Schweſterthränen lagen noch auf ſeinem Auge.
„Oder wären es nur meine Bruderthränen“
ſagte ſein verwirrter Geiſt, als er aufſtand
und in der hellen Nacht nach Hauſe gieng.
Alles war ſo ſtill als ſchlafe das Leben noch
fort — er hörte ſich und fürchtete, es zu we¬
cken — er ſchauete ſeinen gehenden Körper an:
ja, dacht' er, dieſes dichte um uns gewickelte
Bette ſpielt uns eben die Quaalen und Freu¬
den des Lebens zu. So wie wir ſchlafend un¬
ter herüberfallenden Bergen zu erſticken glau¬
ben, wenn das Deckbette ſich auf unſere Lippen
überſchlägt, oder über klebendes Gluth-Blech
zu ſchreiten, wenn es mit zu dicken Federn die
Füße drückt, oder als nackte Bettler zu frieren,
wenn es ſich kühlend verſchiebt: ſo wirft dieſe
Erde, dieſer Leib in den ſiebzigjährigen Schlaf
des Unſterblichen Lichter und Klänge und Käl¬

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[363/0375] Hand — um ihn war kein Laut und kein Menſch. War alles der verwehte Wolkenzug der Träume geweſen, das kurze Wirbeln und Bilden in ihrem Zauberrauch? Aber das Leben, die Wahrheit hatte ja ſo lebendig an ſeiner Bruſt gebrannt; und die Schweſterthränen lagen noch auf ſeinem Auge. „Oder wären es nur meine Bruderthränen“ ſagte ſein verwirrter Geiſt, als er aufſtand und in der hellen Nacht nach Hauſe gieng. Alles war ſo ſtill als ſchlafe das Leben noch fort — er hörte ſich und fürchtete, es zu we¬ cken — er ſchauete ſeinen gehenden Körper an: ja, dacht' er, dieſes dichte um uns gewickelte Bette ſpielt uns eben die Quaalen und Freu¬ den des Lebens zu. So wie wir ſchlafend un¬ ter herüberfallenden Bergen zu erſticken glau¬ ben, wenn das Deckbette ſich auf unſere Lippen überſchlägt, oder über klebendes Gluth-Blech zu ſchreiten, wenn es mit zu dicken Federn die Füße drückt, oder als nackte Bettler zu frieren, wenn es ſich kühlend verſchiebt: ſo wirft dieſe Erde, dieſer Leib in den ſiebzigjährigen Schlaf des Unſterblichen Lichter und Klänge und Käl¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/375>, abgerufen am 25.11.2024.