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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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wie ihr Vater -- die Zeit und Zukunft ver¬
tilgt, und die künftigen Tage daraus für sie
nur eine blind gemahlte Jubelpforte, die Men¬
schenhände nicht öffnen, und durch welche sie
nicht mehr dringen kann, ausser mit der ent¬
bundnen Seele, wenn diese den trägen Schlepp-
Mantel des Körpers auf die Erde zurückge¬
worfen.

Ihr Herz klammerte sich jetzt -- wie Al¬
bano dem männlichen -- noch mehr dem weib¬
lichen an, das zarter und ohne die Fiber der
Leidenschaften schlug; so wie die Kompasnadel
sich als eine gewundne Lilie zeigt, so die Tu¬
gend sich ihr als weibliche Schönheit.

Ihre Mutter wich nicht von ihrem Blin¬
den-Stuhl, sie las ihr vor, sogar die franzö¬
sischen Gebete und hielt sie tröstend aufrecht;
und sie wurde leicht getröstet, denn sie sah nicht
das bekümmerte Gesicht der Mutter und hörte
nur die ruhige Stimme. Julienne warf seit dem
Begräbniß der ersten Liebe eine alle Kruste ab
und ein frisches Feuer für die Freundin gieng aus
dem Herzen auf: "ich habe nicht redlich an Dir ge¬
handelt" sagte sie einmal; da erklärten sie sich

wie ihr Vater — die Zeit und Zukunft ver¬
tilgt, und die künftigen Tage daraus für ſie
nur eine blind gemahlte Jubelpforte, die Men¬
ſchenhände nicht öffnen, und durch welche ſie
nicht mehr dringen kann, auſſer mit der ent¬
bundnen Seele, wenn dieſe den trägen Schlepp-
Mantel des Körpers auf die Erde zurückge¬
worfen.

Ihr Herz klammerte ſich jetzt — wie Al¬
bano dem männlichen — noch mehr dem weib¬
lichen an, das zarter und ohne die Fiber der
Leidenſchaften ſchlug; ſo wie die Kompasnadel
ſich als eine gewundne Lilie zeigt, ſo die Tu¬
gend ſich ihr als weibliche Schönheit.

Ihre Mutter wich nicht von ihrem Blin¬
den-Stuhl, ſie las ihr vor, ſogar die franzö¬
ſiſchen Gebete und hielt ſie tröſtend aufrecht;
und ſie wurde leicht getröſtet, denn ſie ſah nicht
das bekümmerte Geſicht der Mutter und hörte
nur die ruhige Stimme. Julienne warf ſeit dem
Begräbniß der erſten Liebe eine alle Kruſte ab
und ein friſches Feuer für die Freundin gieng aus
dem Herzen auf: „ich habe nicht redlich an Dir ge¬
handelt“ ſagte ſie einmal; da erklärten ſie ſich

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[233/0245] wie ihr Vater — die Zeit und Zukunft ver¬ tilgt, und die künftigen Tage daraus für ſie nur eine blind gemahlte Jubelpforte, die Men¬ ſchenhände nicht öffnen, und durch welche ſie nicht mehr dringen kann, auſſer mit der ent¬ bundnen Seele, wenn dieſe den trägen Schlepp- Mantel des Körpers auf die Erde zurückge¬ worfen. Ihr Herz klammerte ſich jetzt — wie Al¬ bano dem männlichen — noch mehr dem weib¬ lichen an, das zarter und ohne die Fiber der Leidenſchaften ſchlug; ſo wie die Kompasnadel ſich als eine gewundne Lilie zeigt, ſo die Tu¬ gend ſich ihr als weibliche Schönheit. Ihre Mutter wich nicht von ihrem Blin¬ den-Stuhl, ſie las ihr vor, ſogar die franzö¬ ſiſchen Gebete und hielt ſie tröſtend aufrecht; und ſie wurde leicht getröſtet, denn ſie ſah nicht das bekümmerte Geſicht der Mutter und hörte nur die ruhige Stimme. Julienne warf ſeit dem Begräbniß der erſten Liebe eine alle Kruſte ab und ein friſches Feuer für die Freundin gieng aus dem Herzen auf: „ich habe nicht redlich an Dir ge¬ handelt“ ſagte ſie einmal; da erklärten ſie ſich

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/245>, abgerufen am 27.11.2024.