Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite
81. Zykel.

Warm und glänzend trat die Sonne, die
heute wie die Unglückliche verfinstert werden
sollte, ihren Morgen an. Liane erwachte zum
Begräbniß-Tage ihrer Liebe nicht mit der ge¬
strigen Stärke, sondern weich und matt aber
heiterer durch die Aussicht in die Wiederkehr
der friedlichen Zeit. Die Mutter, obwohl sel¬
ber kränklich, drückte sie schon frühe an ihr Herz,
um den Puls des theuersten zu prüfen. -- Lia¬
ne blickt' ihr liebreich und sehnsüchtig recht lange
mit nassem Auge ins nasse und schwieg: "Was
willst Du?" -- fragte die Mutter. -- "Mut¬
ter, liebe mich jetzt mehr, da ich allein bin;" sag¬
te sie. Dann band sie vor der Mutter alle
Briefe Albano's zusammen, ohne sie zu lesen,
den ausgenommen, worin er ihren Bruder um
seine Liebe bittet. Sie scherzte gegen die Mut¬
ter, wie das Schicksal es mit uns wie arme
Eltern mit ihren Kindern machte, die ihnen an¬
fangs helle, bunte Gewänder angäben, weil die¬
se leichter in dunkle umzufärben wären.

Die Mutter suchte allmählig ihre Geister¬
phantasien, gleichsam das Todes-Moos, das

81. Zykel.

Warm und glänzend trat die Sonne, die
heute wie die Unglückliche verfinſtert werden
ſollte, ihren Morgen an. Liane erwachte zum
Begräbniß-Tage ihrer Liebe nicht mit der ge¬
ſtrigen Stärke, ſondern weich und matt aber
heiterer durch die Ausſicht in die Wiederkehr
der friedlichen Zeit. Die Mutter, obwohl ſel¬
ber kränklich, drückte ſie ſchon frühe an ihr Herz,
um den Puls des theuerſten zu prüfen. — Lia¬
ne blickt' ihr liebreich und ſehnſüchtig recht lange
mit naſſem Auge ins naſſe und ſchwieg: „Was
willſt Du?“ — fragte die Mutter. — „Mut¬
ter, liebe mich jetzt mehr, da ich allein bin;“ ſag¬
te ſie. Dann band ſie vor der Mutter alle
Briefe Albano's zuſammen, ohne ſie zu leſen,
den ausgenommen, worin er ihren Bruder um
ſeine Liebe bittet. Sie ſcherzte gegen die Mut¬
ter, wie das Schickſal es mit uns wie arme
Eltern mit ihren Kindern machte, die ihnen an¬
fangs helle, bunte Gewänder angäben, weil die¬
ſe leichter in dunkle umzufärben wären.

Die Mutter ſuchte allmählig ihre Geiſter¬
phantaſien, gleichſam das Todes-Moos, das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0216" n="204"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>81. <hi rendition="#g">Zykel.</hi><lb/></head>
          <p>Warm und glänzend trat die Sonne, die<lb/>
heute wie die Unglückliche verfin&#x017F;tert werden<lb/>
&#x017F;ollte, ihren Morgen an. Liane erwachte zum<lb/>
Begräbniß-Tage ihrer Liebe nicht mit der ge¬<lb/>
&#x017F;trigen Stärke, &#x017F;ondern weich und matt aber<lb/>
heiterer durch die Aus&#x017F;icht in die Wiederkehr<lb/>
der friedlichen Zeit. Die Mutter, obwohl &#x017F;el¬<lb/>
ber kränklich, drückte &#x017F;ie &#x017F;chon frühe an ihr Herz,<lb/>
um den Puls des theuer&#x017F;ten zu prüfen. &#x2014; Lia¬<lb/>
ne blickt' ihr liebreich und &#x017F;ehn&#x017F;üchtig recht lange<lb/>
mit na&#x017F;&#x017F;em Auge ins na&#x017F;&#x017F;e und &#x017F;chwieg: &#x201E;Was<lb/>
will&#x017F;t Du?&#x201C; &#x2014; fragte die Mutter. &#x2014; &#x201E;Mut¬<lb/>
ter, liebe mich jetzt mehr, da ich allein bin;&#x201C; &#x017F;ag¬<lb/>
te &#x017F;ie. Dann band &#x017F;ie vor der Mutter alle<lb/>
Briefe Albano's zu&#x017F;ammen, ohne &#x017F;ie zu le&#x017F;en,<lb/>
den ausgenommen, worin er ihren Bruder um<lb/>
&#x017F;eine Liebe bittet. Sie &#x017F;cherzte gegen die Mut¬<lb/>
ter, wie das Schick&#x017F;al es mit uns wie arme<lb/>
Eltern mit ihren Kindern machte, die ihnen an¬<lb/>
fangs helle, bunte Gewänder angäben, weil die¬<lb/>
&#x017F;e leichter in dunkle umzufärben wären.</p><lb/>
          <p>Die Mutter &#x017F;uchte allmählig ihre Gei&#x017F;ter¬<lb/>
phanta&#x017F;ien, gleich&#x017F;am das Todes-Moos, das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0216] 81. Zykel. Warm und glänzend trat die Sonne, die heute wie die Unglückliche verfinſtert werden ſollte, ihren Morgen an. Liane erwachte zum Begräbniß-Tage ihrer Liebe nicht mit der ge¬ ſtrigen Stärke, ſondern weich und matt aber heiterer durch die Ausſicht in die Wiederkehr der friedlichen Zeit. Die Mutter, obwohl ſel¬ ber kränklich, drückte ſie ſchon frühe an ihr Herz, um den Puls des theuerſten zu prüfen. — Lia¬ ne blickt' ihr liebreich und ſehnſüchtig recht lange mit naſſem Auge ins naſſe und ſchwieg: „Was willſt Du?“ — fragte die Mutter. — „Mut¬ ter, liebe mich jetzt mehr, da ich allein bin;“ ſag¬ te ſie. Dann band ſie vor der Mutter alle Briefe Albano's zuſammen, ohne ſie zu leſen, den ausgenommen, worin er ihren Bruder um ſeine Liebe bittet. Sie ſcherzte gegen die Mut¬ ter, wie das Schickſal es mit uns wie arme Eltern mit ihren Kindern machte, die ihnen an¬ fangs helle, bunte Gewänder angäben, weil die¬ ſe leichter in dunkle umzufärben wären. Die Mutter ſuchte allmählig ihre Geiſter¬ phantaſien, gleichſam das Todes-Moos, das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/216
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/216>, abgerufen am 23.11.2024.