"Du es nicht, mein erster Bruder? die Seele "nicht, die ich so lange liebte wie Dich?" -- Leise, leise setzte er dazu: "Deine Schwester?" und sank ihm auf den Mund, um die ersten Laute wegzuküssen.
Aber Karl, im Aufruhr des Entzückens und der Liebe wie eine Erde bei dem Aufgange des Frühlings, bändigte sich nicht; er preßte ihn an sich; er ließ ihn los; er umfaßte ihn wieder, er weinte seelig, er drückte Albanos Augen zu und sagte neu-verschwistert: Bruder! Vergeblich wollte Albano mit der Hand jede andere Sylbe auf seinen Lippen erdrücken. Er fieng vor dem betroffenen Jüngling -- der un¬ ter der einsamen und poetischen Bücherwelt eine höhere Zartheit gewonnen als die Wirklichkeit des Umgangs lehrt -- Lianen abzumalen an, wie sie dulde und handle, wie sie für ihn sorge und rede und sogar verarme, um seine Schul¬ den zu tilgen; wie sie ihn nie hart tadle, son¬ dern nur mild bitte, und alles das nicht aus künstlicher Duldung, sondern aus heisser ächter Liebe und wie doch das noch kaum das Bei¬ werk ihres Bildes sey. Er war in seiner reinern
„Du es nicht, mein erſter Bruder? die Seele „nicht, die ich ſo lange liebte wie Dich?“ — Leiſe, leiſe ſetzte er dazu: „Deine Schweſter?“ und ſank ihm auf den Mund, um die erſten Laute wegzuküſſen.
Aber Karl, im Aufruhr des Entzückens und der Liebe wie eine Erde bei dem Aufgange des Frühlings, bändigte ſich nicht; er preßte ihn an ſich; er ließ ihn los; er umfaßte ihn wieder, er weinte ſeelig, er drückte Albanos Augen zu und ſagte neu-verſchwiſtert: Bruder! Vergeblich wollte Albano mit der Hand jede andere Sylbe auf ſeinen Lippen erdrücken. Er fieng vor dem betroffenen Jüngling — der un¬ ter der einſamen und poetiſchen Bücherwelt eine höhere Zartheit gewonnen als die Wirklichkeit des Umgangs lehrt — Lianen abzumalen an, wie ſie dulde und handle, wie ſie für ihn ſorge und rede und ſogar verarme, um ſeine Schul¬ den zu tilgen; wie ſie ihn nie hart tadle, ſon¬ dern nur mild bitte, und alles das nicht aus künſtlicher Duldung, ſondern aus heiſſer ächter Liebe und wie doch das noch kaum das Bei¬ werk ihres Bildes ſey. Er war in ſeiner reinern
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„Du es nicht, mein erſter Bruder? die Seele
„nicht, die ich ſo lange liebte wie Dich?“ —
Leiſe, leiſe ſetzte er dazu: „Deine Schweſter?“
und ſank ihm auf den Mund, um die erſten
Laute wegzuküſſen.
Aber Karl, im Aufruhr des Entzückens
und der Liebe wie eine Erde bei dem Aufgange
des Frühlings, bändigte ſich nicht; er preßte
ihn an ſich; er ließ ihn los; er umfaßte ihn
wieder, er weinte ſeelig, er drückte Albanos
Augen zu und ſagte neu-verſchwiſtert: Bruder!
Vergeblich wollte Albano mit der Hand jede
andere Sylbe auf ſeinen Lippen erdrücken. Er
fieng vor dem betroffenen Jüngling — der un¬
ter der einſamen und poetiſchen Bücherwelt eine
höhere Zartheit gewonnen als die Wirklichkeit
des Umgangs lehrt — Lianen abzumalen an,
wie ſie dulde und handle, wie ſie für ihn ſorge
und rede und ſogar verarme, um ſeine Schul¬
den zu tilgen; wie ſie ihn nie hart tadle, ſon¬
dern nur mild bitte, und alles das nicht aus
künſtlicher Duldung, ſondern aus heiſſer ächter
Liebe und wie doch das noch kaum das Bei¬
werk ihres Bildes ſey. Er war in ſeiner reinern
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Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/45>, abgerufen am 17.07.2024.
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