beste Tochter -- denn gerade diese wird gehor¬ chen, schweigen und sterben, wie den Mönchen von La Trappe ihr Kloster niederbrennt, ohne daß einer das Gelübde des Schweigens bricht *) -- wenn sie, sag' ich, wie eine Frucht halb vor der Sonne halb im Schatten, nach außen hin blüht und nach innen kalt erbleicht, wenn sie, ihrem entseelten Herzen nachsterbend, dir end¬ lich nichts mehr verhehlen kann, sondern Jahre lang die Blässe und die Schmerzen des Unterganges mitten im Aufgange des Lebens herumträgt -- und wenn du sie nicht trösten darfst, weil du sie zerstöret hast und dein Ge¬ wissen den Namen Kindermörderin nicht ver¬ schweigt -- und wenn nun endlich das ermü¬ dete Opfer vor deinen Thränen daliegt und das ringende Wesen so bang und früh, so matt und doch lebensdurstig, vergebend und klagend mit brechenden und sehnsüchtigen Blicken pein¬ lich-verworren und streitend in den bodenlosen Todesfluß mit den blühenden Gliedern unter¬ sinkt: o schuldige Mutter am Ufer, die du sie
*) Forsters Ansichten. I B.
beſte Tochter — denn gerade dieſe wird gehor¬ chen, ſchweigen und ſterben, wie den Mönchen von La Trappe ihr Kloſter niederbrennt, ohne daß einer das Gelübde des Schweigens bricht *) — wenn ſie, ſag' ich, wie eine Frucht halb vor der Sonne halb im Schatten, nach außen hin blüht und nach innen kalt erbleicht, wenn ſie, ihrem entſeelten Herzen nachſterbend, dir end¬ lich nichts mehr verhehlen kann, ſondern Jahre lang die Bläſſe und die Schmerzen des Unterganges mitten im Aufgange des Lebens herumträgt — und wenn du ſie nicht tröſten darfſt, weil du ſie zerſtöret haſt und dein Ge¬ wiſſen den Namen Kindermörderin nicht ver¬ ſchweigt — und wenn nun endlich das ermü¬ dete Opfer vor deinen Thränen daliegt und das ringende Weſen ſo bang und früh, ſo matt und doch lebensdurſtig, vergebend und klagend mit brechenden und ſehnſüchtigen Blicken pein¬ lich-verworren und ſtreitend in den bodenloſen Todesfluß mit den blühenden Gliedern unter¬ ſinkt: o ſchuldige Mutter am Ufer, die du ſie
*) Forſters Anſichten. I B.
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beſte Tochter — denn gerade dieſe wird gehor¬
chen, ſchweigen und ſterben, wie den Mönchen
von La Trappe ihr Kloſter niederbrennt, ohne
daß einer das Gelübde des Schweigens bricht *)
— wenn ſie, ſag' ich, wie eine Frucht halb vor
der Sonne halb im Schatten, nach außen hin
blüht und nach innen kalt erbleicht, wenn ſie,
ihrem entſeelten Herzen nachſterbend, dir end¬
lich nichts mehr verhehlen kann, ſondern
Jahre lang die Bläſſe und die Schmerzen des
Unterganges mitten im Aufgange des Lebens
herumträgt — und wenn du ſie nicht tröſten
darfſt, weil du ſie zerſtöret haſt und dein Ge¬
wiſſen den Namen Kindermörderin nicht ver¬
ſchweigt — und wenn nun endlich das ermü¬
dete Opfer vor deinen Thränen daliegt und
das ringende Weſen ſo bang und früh, ſo matt
und doch lebensdurſtig, vergebend und klagend
mit brechenden und ſehnſüchtigen Blicken pein¬
lich-verworren und ſtreitend in den bodenloſen
Todesfluß mit den blühenden Gliedern unter¬
ſinkt: o ſchuldige Mutter am Ufer, die du ſie
*)
Forſters Anſichten. I B.
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Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/102>, abgerufen am 16.02.2025.
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