nigbehälter der Minute ausnascht; und daher fanden sie an jeder anfallenden Welle, an je¬ dem Zitronenspalier, an jeder Statue unter Blüthen, an jedem rückenden Wiederschein, an jedem fliehenden Schiffe mehr als eine Blume, die den gefüllten Kelch weiter unter dem war¬ men Himmel aufmachte, anstatt daß es uns unter unserm kalten, wie den Bienen geht, vor denen Maifröste die Blumen verschließen. -- O die Insulaner thun Recht. Unser größter und längster Irrthum ist, daß wir das Leben, d. h. seinen Genuß, wie die Materialisten das Ich, in seiner Zusammensetzung suchen, als könnte das Ganze oder das Verhältniß der Bestandtheile uns etwas geben, das nicht jeder einzelne Theil schon hätte. Besteht denn der Himmel unsers Daseyns wie der blaue über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durchsichtiges Nichts ist und die erst in der Ferne und im Großen blauer Aether wird? Das Jahrhundert wirft den Blumensaamen deiner Freude nur aus der porösen Säemaschine von Minuten; oder viel¬ mehr an der seeligen Ewigkeit selber ist keine
nigbehälter der Minute ausnaſcht; und daher fanden ſie an jeder anfallenden Welle, an je¬ dem Zitronenſpalier, an jeder Statue unter Blüthen, an jedem rückenden Wiederſchein, an jedem fliehenden Schiffe mehr als eine Blume, die den gefüllten Kelch weiter unter dem war¬ men Himmel aufmachte, anſtatt daß es uns unter unſerm kalten, wie den Bienen geht, vor denen Maifröſte die Blumen verſchließen. — O die Inſulaner thun Recht. Unſer größter und längſter Irrthum iſt, daß wir das Leben, d. h. ſeinen Genuß, wie die Materialiſten das Ich, in ſeiner Zuſammenſetzung ſuchen, als könnte das Ganze oder das Verhältniß der Beſtandtheile uns etwas geben, das nicht jeder einzelne Theil ſchon hätte. Beſteht denn der Himmel unſers Daſeyns wie der blaue über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durchſichtiges Nichts iſt und die erſt in der Ferne und im Großen blauer Aether wird? Das Jahrhundert wirft den Blumenſaamen deiner Freude nur aus der poröſen Säemaſchine von Minuten; oder viel¬ mehr an der ſeeligen Ewigkeit ſelber iſt keine
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nigbehälter der Minute ausnaſcht; und daher
fanden ſie an jeder anfallenden Welle, an je¬
dem Zitronenſpalier, an jeder Statue unter
Blüthen, an jedem rückenden Wiederſchein, an
jedem fliehenden Schiffe mehr als eine Blume,
die den gefüllten Kelch weiter unter dem war¬
men Himmel aufmachte, anſtatt daß es uns
unter unſerm kalten, wie den Bienen geht, vor
denen Maifröſte die Blumen verſchließen. —
O die Inſulaner thun Recht. Unſer größter
und längſter Irrthum iſt, daß wir das Leben,
d. h. ſeinen Genuß, wie die Materialiſten das
Ich, in ſeiner Zuſammenſetzung ſuchen,
als könnte das Ganze oder das Verhältniß der
Beſtandtheile uns etwas geben, das nicht
jeder einzelne Theil ſchon hätte. Beſteht denn
der Himmel unſers Daſeyns wie der blaue
über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe
und im Kleinen nur ein durchſichtiges Nichts
iſt und die erſt in der Ferne und im Großen
blauer Aether wird? Das Jahrhundert wirft
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poröſen Säemaſchine von Minuten; oder viel¬
mehr an der ſeeligen Ewigkeit ſelber iſt keine
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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/47>, abgerufen am 23.11.2024.
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