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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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Julienne besuchte abends um 9 Uhr das
einzige Herz, das am Hofe wie ihres und für
ihres schlug, ihre gute Liane. Diese bot gern
ihrer anfangenden Migraine die Stirn und
suchte nur fremde Schmerzen zu fühlen und zu
stillen. Die Freundinnen, die vor fremden Au¬
gen nur Scherze und voreinander nur einen
weichen schwärmerischen Ernst entfalteten, ver¬
sanken immer tiefer in diesen vor der religiösen
strengen Ministerinn, die nie an Juliennen so
viel Seele fand als in dieser sanft nachweinen¬
den Stunde, wie Levkoien zu duften anfangen,
wenn sie begossen werden. Nicht der käm¬
pfende Schmerz, sondern der fliehende verschö¬
nert die Gestalt; daher verklärt der Todte seine,
weil die Quaalen erkaltet sind. Die Mädchen
standen schwärmerisch miteinander am Fenster,
das zunehmende Mondenlicht ihrer Phantasie
wurde durch das äußere voll; sie machten den
Nonnen-Plan, auf Lebenslang beisammen zu
leben und zusammenzuziehen. Es kam ihnen
in dieser stillen Rührung oft mit Erschrecken
vor als wehe der klingende Flug abgeschiede¬
ner Seelen vorüber -- (bloß ein Paar Fliegen

Julienne beſuchte abends um 9 Uhr das
einzige Herz, das am Hofe wie ihres und für
ihres ſchlug, ihre gute Liane. Dieſe bot gern
ihrer anfangenden Migraine die Stirn und
ſuchte nur fremde Schmerzen zu fühlen und zu
ſtillen. Die Freundinnen, die vor fremden Au¬
gen nur Scherze und voreinander nur einen
weichen ſchwärmeriſchen Ernſt entfalteten, ver¬
ſanken immer tiefer in dieſen vor der religiöſen
ſtrengen Miniſterinn, die nie an Juliennen ſo
viel Seele fand als in dieſer ſanft nachweinen¬
den Stunde, wie Levkoien zu duften anfangen,
wenn ſie begoſſen werden. Nicht der käm¬
pfende Schmerz, ſondern der fliehende verſchö¬
nert die Geſtalt; daher verklärt der Todte ſeine,
weil die Quaalen erkaltet ſind. Die Mädchen
ſtanden ſchwärmeriſch miteinander am Fenſter,
das zunehmende Mondenlicht ihrer Phantaſie
wurde durch das äußere voll; ſie machten den
Nonnen-Plan, auf Lebenslang beiſammen zu
leben und zuſammenzuziehen. Es kam ihnen
in dieſer ſtillen Rührung oft mit Erſchrecken
vor als wehe der klingende Flug abgeſchiede¬
ner Seelen vorüber — (bloß ein Paar Fliegen

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[300/0320] Julienne beſuchte abends um 9 Uhr das einzige Herz, das am Hofe wie ihres und für ihres ſchlug, ihre gute Liane. Dieſe bot gern ihrer anfangenden Migraine die Stirn und ſuchte nur fremde Schmerzen zu fühlen und zu ſtillen. Die Freundinnen, die vor fremden Au¬ gen nur Scherze und voreinander nur einen weichen ſchwärmeriſchen Ernſt entfalteten, ver¬ ſanken immer tiefer in dieſen vor der religiöſen ſtrengen Miniſterinn, die nie an Juliennen ſo viel Seele fand als in dieſer ſanft nachweinen¬ den Stunde, wie Levkoien zu duften anfangen, wenn ſie begoſſen werden. Nicht der käm¬ pfende Schmerz, ſondern der fliehende verſchö¬ nert die Geſtalt; daher verklärt der Todte ſeine, weil die Quaalen erkaltet ſind. Die Mädchen ſtanden ſchwärmeriſch miteinander am Fenſter, das zunehmende Mondenlicht ihrer Phantaſie wurde durch das äußere voll; ſie machten den Nonnen-Plan, auf Lebenslang beiſammen zu leben und zuſammenzuziehen. Es kam ihnen in dieſer ſtillen Rührung oft mit Erſchrecken vor als wehe der klingende Flug abgeſchiede¬ ner Seelen vorüber — (bloß ein Paar Fliegen

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/320>, abgerufen am 24.11.2024.