Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

gehört, gleichsam als ihr Schwanengesang mit
seinen Harmonien zusammen. Aber nicht ge¬
nug: er schrieb sogar heimlich ein -- Trauer¬
spiel (du gute Seele!), worin er alle seine zar¬
testen und bittersten Gefühle mit nassen Augen
auf fremde Lippen legte -- aber sie fürchter¬
lich anfachte, indem er sie ausdrückte. -- Jeder
kann merken, daß er damit dem Schwätzer
und Spione, dem Zufalle, entgehen wollte; aber
nicht jeder merkt -- etwas ganz Eigenes; in
fremdem Namen dürf' er, glaubt' er, dem
tiefen Schmerze eine heftigere Sprache geben,
zu welcher er in seinem vor so vielen stoi¬
schen klassischen Helden verschämt den Muth
nicht hatte. So aber konnten die Klassiker
nichts anfangen.

Das stille warme Schwärmen wuchs unter
dieser bedeckenden heißen Glasglocke noch viel
größer; nämlich dergestalt, daß er die Pflege¬
eltern rührend bat, ihn am ersten Pfingsttage
zum -- h. Abendmahle zu lassen. Die Baufällig¬
keit der Dorfkirche, worin man es schwerlich
ein Jahr später nehmen konnte, mußte für ihn
so gut, wie die körperliche für Liane sprechen. --

Titan. I. P

gehört, gleichſam als ihr Schwanengeſang mit
ſeinen Harmonien zuſammen. Aber nicht ge¬
nug: er ſchrieb ſogar heimlich ein — Trauer¬
ſpiel (du gute Seele!), worin er alle ſeine zar¬
teſten und bitterſten Gefühle mit naſſen Augen
auf fremde Lippen legte — aber ſie fürchter¬
lich anfachte, indem er ſie ausdrückte. — Jeder
kann merken, daß er damit dem Schwätzer
und Spione, dem Zufalle, entgehen wollte; aber
nicht jeder merkt — etwas ganz Eigenes; in
fremdem Namen dürf' er, glaubt' er, dem
tiefen Schmerze eine heftigere Sprache geben,
zu welcher er in ſeinem vor ſo vielen ſtoi¬
ſchen klaſſiſchen Helden verſchämt den Muth
nicht hatte. So aber konnten die Klaſſiker
nichts anfangen.

Das ſtille warme Schwärmen wuchs unter
dieſer bedeckenden heißen Glasglocke noch viel
größer; nämlich dergeſtalt, daß er die Pflege¬
eltern rührend bat, ihn am erſten Pfingſttage
zum — h. Abendmahle zu laſſen. Die Baufällig¬
keit der Dorfkirche, worin man es ſchwerlich
ein Jahr ſpäter nehmen konnte, mußte für ihn
ſo gut, wie die körperliche für Liane ſprechen. —

Titan. I. P
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0245" n="225"/>
gehört, gleich&#x017F;am als ihr Schwanenge&#x017F;ang mit<lb/>
&#x017F;einen Harmonien zu&#x017F;ammen. Aber nicht ge¬<lb/>
nug: er &#x017F;chrieb &#x017F;ogar heimlich ein &#x2014; Trauer¬<lb/>
&#x017F;piel (du gute Seele!), worin er alle &#x017F;eine zar¬<lb/>
te&#x017F;ten und bitter&#x017F;ten Gefühle mit na&#x017F;&#x017F;en Augen<lb/>
auf <hi rendition="#g">fremde</hi> Lippen legte &#x2014; aber &#x017F;ie fürchter¬<lb/>
lich anfachte, indem er &#x017F;ie ausdrückte. &#x2014; Jeder<lb/>
kann merken, daß er damit dem Schwätzer<lb/>
und Spione, dem Zufalle, entgehen wollte; aber<lb/>
nicht jeder merkt &#x2014; etwas ganz Eigenes; in<lb/><hi rendition="#g">fremdem</hi> Namen dürf' er, glaubt' er, dem<lb/>
tiefen Schmerze eine heftigere Sprache geben,<lb/>
zu welcher er in <hi rendition="#g">&#x017F;einem</hi> vor &#x017F;o vielen &#x017F;toi¬<lb/>
&#x017F;chen kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Helden ver&#x017F;chämt den Muth<lb/>
nicht hatte. So aber konnten die Kla&#x017F;&#x017F;iker<lb/>
nichts anfangen.</p><lb/>
          <p>Das &#x017F;tille warme Schwärmen wuchs unter<lb/>
die&#x017F;er bedeckenden heißen Glasglocke noch viel<lb/>
größer; nämlich derge&#x017F;talt, daß er die Pflege¬<lb/>
eltern rührend bat, ihn am er&#x017F;ten Pfing&#x017F;ttage<lb/>
zum &#x2014; h. Abendmahle zu la&#x017F;&#x017F;en. Die Baufällig¬<lb/>
keit der Dorfkirche, worin man es &#x017F;chwerlich<lb/>
ein Jahr &#x017F;päter nehmen konnte, mußte für ihn<lb/>
&#x017F;o gut, wie die körperliche für Liane &#x017F;prechen. &#x2014;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Titan. <hi rendition="#aq">I</hi>. P<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[225/0245] gehört, gleichſam als ihr Schwanengeſang mit ſeinen Harmonien zuſammen. Aber nicht ge¬ nug: er ſchrieb ſogar heimlich ein — Trauer¬ ſpiel (du gute Seele!), worin er alle ſeine zar¬ teſten und bitterſten Gefühle mit naſſen Augen auf fremde Lippen legte — aber ſie fürchter¬ lich anfachte, indem er ſie ausdrückte. — Jeder kann merken, daß er damit dem Schwätzer und Spione, dem Zufalle, entgehen wollte; aber nicht jeder merkt — etwas ganz Eigenes; in fremdem Namen dürf' er, glaubt' er, dem tiefen Schmerze eine heftigere Sprache geben, zu welcher er in ſeinem vor ſo vielen ſtoi¬ ſchen klaſſiſchen Helden verſchämt den Muth nicht hatte. So aber konnten die Klaſſiker nichts anfangen. Das ſtille warme Schwärmen wuchs unter dieſer bedeckenden heißen Glasglocke noch viel größer; nämlich dergeſtalt, daß er die Pflege¬ eltern rührend bat, ihn am erſten Pfingſttage zum — h. Abendmahle zu laſſen. Die Baufällig¬ keit der Dorfkirche, worin man es ſchwerlich ein Jahr ſpäter nehmen konnte, mußte für ihn ſo gut, wie die körperliche für Liane ſprechen. — Titan. I. P

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/245
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/245>, abgerufen am 26.11.2024.