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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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chen trachtete. Gustavs Augen suchten und mieden
nur -- Augen, nicht Szenen; aus dem gesell¬
schaftlichen Gewühl, unter dem seine innern Flü¬
gel erlagen, konnt' er nur durch einen Springstab
von aussen in die Höhe. Denn die ausgenommen,
die ihm ähnlich war, ritzten und baitzten die an¬
dern alle, die es nicht waren, sein Inneres so
sehr mit ihren Tischreden, daß er nie in größerer
Beklemmung war als heute: ich will das fliegende
Tischgespräch, das die Tugend betraf, in Gedan¬
kenstrichen abgemarket hersetzen, weil zwanzig Köp¬
fe
daran sprachen, wie am Bauern-Tischgebet
die ganze Familie antiphonirend betet.

"Man hat keine Tugend, sondern nur Tugen¬
den. -- Die Weiber haben sie, die Männer be¬
kriegen sie -- Tugend ist nichts als eine unge¬
wöhnliche Höflichkeit
-- Tugend ist un peu
de pavillon joint a beaucoup de culasse
*); mais le
moyen de n'etre que l'un ou que l'autre
? -- Sie
ist wie die Schönheit, überall anders; die Köpfe
sind hier spitz, dort breit; so ists mit den Herzen,

*) Bekanntlich heisset an einer doublette, der in der Fassung
versteckte Kiesel oder Bergkrystall culasse, und der darauf
blühende Demant pavillon.

chen trachtete. Guſtavs Augen ſuchten und mieden
nur — Augen, nicht Szenen; aus dem geſell¬
ſchaftlichen Gewuͤhl, unter dem ſeine innern Fluͤ¬
gel erlagen, konnt' er nur durch einen Springſtab
von auſſen in die Hoͤhe. Denn die ausgenommen,
die ihm aͤhnlich war, ritzten und baitzten die an¬
dern alle, die es nicht waren, ſein Inneres ſo
ſehr mit ihren Tiſchreden, daß er nie in groͤßerer
Beklemmung war als heute: ich will das fliegende
Tiſchgeſpraͤch, das die Tugend betraf, in Gedan¬
kenſtrichen abgemarket herſetzen, weil zwanzig Koͤp¬
fe
daran ſprachen, wie am Bauern-Tiſchgebet
die ganze Familie antiphonirend betet.

„Man hat keine Tugend, ſondern nur Tugen¬
den. — Die Weiber haben ſie, die Maͤnner be¬
kriegen ſie — Tugend iſt nichts als eine unge¬
woͤhnliche Hoͤflichkeit
— Tugend iſt un peu
de pavillon joint à beaucoup de culaſſe
*); mais le
moyen de n'être que l'un ou que l'autre
? — Sie
iſt wie die Schoͤnheit, uͤberall anders; die Koͤpfe
ſind hier ſpitz, dort breit; ſo iſts mit den Herzen,

*) Bekanntlich heiſſet an einer doublette, der in der Faſſung
verſteckte Kieſel oder Bergkryſtall culasse, und der darauf
blühende Demant pavillon.
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[74/0084] chen trachtete. Guſtavs Augen ſuchten und mieden nur — Augen, nicht Szenen; aus dem geſell¬ ſchaftlichen Gewuͤhl, unter dem ſeine innern Fluͤ¬ gel erlagen, konnt' er nur durch einen Springſtab von auſſen in die Hoͤhe. Denn die ausgenommen, die ihm aͤhnlich war, ritzten und baitzten die an¬ dern alle, die es nicht waren, ſein Inneres ſo ſehr mit ihren Tiſchreden, daß er nie in groͤßerer Beklemmung war als heute: ich will das fliegende Tiſchgeſpraͤch, das die Tugend betraf, in Gedan¬ kenſtrichen abgemarket herſetzen, weil zwanzig Koͤp¬ fe daran ſprachen, wie am Bauern-Tiſchgebet die ganze Familie antiphonirend betet. „Man hat keine Tugend, ſondern nur Tugen¬ den. — Die Weiber haben ſie, die Maͤnner be¬ kriegen ſie — Tugend iſt nichts als eine unge¬ woͤhnliche Hoͤflichkeit — Tugend iſt un peu de pavillon joint à beaucoup de culaſſe *); mais le moyen de n'être que l'un ou que l'autre? — Sie iſt wie die Schoͤnheit, uͤberall anders; die Koͤpfe ſind hier ſpitz, dort breit; ſo iſts mit den Herzen, *) Bekanntlich heiſſet an einer doublette, der in der Faſſung verſteckte Kieſel oder Bergkryſtall culasse, und der darauf blühende Demant pavillon.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/84>, abgerufen am 25.11.2024.