aufgehoben hätten; so würde dieses h. Grab sei¬ ner Unsichtbar[e]n seinen Wünschen noch größere Flügel, und seiner Wehmuth größere Seufzer ge¬ geben haben. Denn ich muß es nur einmal dem Leser und mir gestehen, daß er jezt in jenem schwärmerischen, sehnenden, träumenden Zustand war, der vor der erklärten Liebe ist. Dieser Traumflor muß über ihm gelegen haben, da er einmal statt des Schlangenbachs im Abendthal, den er zeichnen wollte, die schöne Statue der Ve¬ nus, die aus diesen Wellen gezogen schien, abge¬ rissen hatte; und zweitens, da er nicht sah wer ihn sah -- die Residentin. Er kam ihr vor wie ein schönes Kind das sechs Fuß hoch gewachsen ist; er konnte mit allen seinen innern Vorzügen noch nicht imponieren, weil auf seinem Gesicht noch zu viel Wohlwollen und zu wenig Welt geschrieben war. Mit jener scherzhaften Koketten-Freimüthigkeit, die die erstgeborne Tochter der Koketten-Gering¬ schätzung des männlichen Geschlechtes ist, sagte sie: "ich geb Ihnen für die Zeichnung das Original" und nahm die erstere und besah sie mit (über etwas anders) denkender Bewunderung. Oefel dem ers erzählte, schalt ihn, daß er nicht
aufgehoben haͤtten; ſo wuͤrde dieſes h. Grab ſei¬ ner Unſichtbar[e]n ſeinen Wuͤnſchen noch groͤßere Fluͤgel, und ſeiner Wehmuth groͤßere Seufzer ge¬ geben haben. Denn ich muß es nur einmal dem Leſer und mir geſtehen, daß er jezt in jenem ſchwaͤrmeriſchen, ſehnenden, traͤumenden Zuſtand war, der vor der erklaͤrten Liebe iſt. Dieſer Traumflor muß uͤber ihm gelegen haben, da er einmal ſtatt des Schlangenbachs im Abendthal, den er zeichnen wollte, die ſchoͤne Statue der Ve¬ nus, die aus dieſen Wellen gezogen ſchien, abge¬ riſſen hatte; und zweitens, da er nicht ſah wer ihn ſah — die Reſidentin. Er kam ihr vor wie ein ſchoͤnes Kind das ſechs Fuß hoch gewachſen iſt; er konnte mit allen ſeinen innern Vorzuͤgen noch nicht imponieren, weil auf ſeinem Geſicht noch zu viel Wohlwollen und zu wenig Welt geſchrieben war. Mit jener ſcherzhaften Koketten-Freimuͤthigkeit, die die erſtgeborne Tochter der Koketten-Gering¬ ſchaͤtzung des maͤnnlichen Geſchlechtes iſt, ſagte ſie: „ich geb Ihnen fuͤr die Zeichnung das Original” und nahm die erſtere und beſah ſie mit (uͤber etwas anders) denkender Bewunderung. Oefel dem ers erzaͤhlte, ſchalt ihn, daß er nicht
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aufgehoben haͤtten; ſo wuͤrde dieſes h. Grab ſei¬
ner Unſichtbaren ſeinen Wuͤnſchen noch groͤßere
Fluͤgel, und ſeiner Wehmuth groͤßere Seufzer ge¬
geben haben. Denn ich muß es nur einmal dem
Leſer und mir geſtehen, daß er jezt in jenem
ſchwaͤrmeriſchen, ſehnenden, traͤumenden Zuſtand
war, der vor der erklaͤrten Liebe iſt. Dieſer
Traumflor muß uͤber ihm gelegen haben, da er
einmal ſtatt des Schlangenbachs im Abendthal,
den er zeichnen wollte, die ſchoͤne Statue der Ve¬
nus, die aus dieſen Wellen gezogen ſchien, abge¬
riſſen hatte; und zweitens, da er nicht ſah wer
ihn ſah — die Reſidentin. Er kam ihr vor wie ein
ſchoͤnes Kind das ſechs Fuß hoch gewachſen iſt; er
konnte mit allen ſeinen innern Vorzuͤgen noch nicht
imponieren, weil auf ſeinem Geſicht noch zu viel
Wohlwollen und zu wenig Welt geſchrieben war.
Mit jener ſcherzhaften Koketten-Freimuͤthigkeit,
die die erſtgeborne Tochter der Koketten-Gering¬
ſchaͤtzung des maͤnnlichen Geſchlechtes iſt, ſagte
ſie: „ich geb Ihnen fuͤr die Zeichnung das
Original” und nahm die erſtere und beſah ſie
mit (uͤber etwas anders) denkender Bewunderung.
Oefel dem ers erzaͤhlte, ſchalt ihn, daß er nicht
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/34>, abgerufen am 22.11.2024.
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