Himmel, nun sterben wir bald." Ewig zitterte die Rührung nach spätern Jahren noch vor jeder Lilie, in Gustavs Herzen fort und gewiß gaukelt einmal in seiner wahren Todesstunde, eine Lilie als das letzte glänzende Viertel der verlöschenden Mondserde vor ihm.
Der Genius hatte vor, ihn am 1sten Junius sei¬ nem Geburtstage, aus der Erde zu lassen. Aber um seine Phantasie noch höher zu spannen, (vielleicht zu hoch), erschuf er in der letzten Woche noch zwei Szenen, die die vorige übertrafen. Denn da er ihm die Seeligkeiten des Himmels d. h. der Erde mit seiner Zunge und mit seinem Gesichte vorgemalet hatte, besonders die Herrlichkeiten der Himmels- und Sphärenmusik: so beschloß er mit der Nachricht, daß sogar oft zu Sterbenden, die noch nicht oben wären, dieses Echo des menschlichen Herzens her¬ unter tönte und daß sie denn eher stürben, weil da¬ von das müde Herz zerflöße. In das Ohr des Klei¬ nen war Musik, diese Poesie der Luft, noch nie gekommen. Sein Lehrer hatte nun ein sogenanntes Sterbelied gemacht, in diesem zog natürlicher Weise Gustav alles, was es vom zweiten Leben sagte, auf das erste und sie lasen es oft, ohne es zu singen.
Himmel, nun ſterben wir bald.“ Ewig zitterte die Ruͤhrung nach ſpaͤtern Jahren noch vor jeder Lilie, in Guſtavs Herzen fort und gewiß gaukelt einmal in ſeiner wahren Todesſtunde, eine Lilie als das letzte glaͤnzende Viertel der verloͤſchenden Mondserde vor ihm.
Der Genius hatte vor, ihn am 1ſten Junius ſei¬ nem Geburtstage, aus der Erde zu laſſen. Aber um ſeine Phantaſie noch hoͤher zu ſpannen, (vielleicht zu hoch), erſchuf er in der letzten Woche noch zwei Szenen, die die vorige uͤbertrafen. Denn da er ihm die Seeligkeiten des Himmels d. h. der Erde mit ſeiner Zunge und mit ſeinem Geſichte vorgemalet hatte, beſonders die Herrlichkeiten der Himmels- und Sphaͤrenmuſik: ſo beſchloß er mit der Nachricht, daß ſogar oft zu Sterbenden, die noch nicht oben waͤren, dieſes Echo des menſchlichen Herzens her¬ unter toͤnte und daß ſie denn eher ſtuͤrben, weil da¬ von das muͤde Herz zerfloͤße. In das Ohr des Klei¬ nen war Muſik, dieſe Poeſie der Luft, noch nie gekommen. Sein Lehrer hatte nun ein ſogenanntes Sterbelied gemacht, in dieſem zog natuͤrlicher Weiſe Guſtav alles, was es vom zweiten Leben ſagte, auf das erſte und ſie laſen es oft, ohne es zu ſingen.
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Himmel, nun ſterben wir bald.“ Ewig zitterte die
Ruͤhrung nach ſpaͤtern Jahren noch vor jeder Lilie,
in Guſtavs Herzen fort und gewiß gaukelt einmal in
ſeiner wahren Todesſtunde, eine Lilie als das letzte
glaͤnzende Viertel der verloͤſchenden Mondserde vor
ihm.
Der Genius hatte vor, ihn am 1ſten Junius ſei¬
nem Geburtstage, aus der Erde zu laſſen. Aber
um ſeine Phantaſie noch hoͤher zu ſpannen, (vielleicht
zu hoch), erſchuf er in der letzten Woche noch zwei
Szenen, die die vorige uͤbertrafen. Denn da er ihm
die Seeligkeiten des Himmels d. h. der Erde mit
ſeiner Zunge und mit ſeinem Geſichte vorgemalet
hatte, beſonders die Herrlichkeiten der Himmels-
und Sphaͤrenmuſik: ſo beſchloß er mit der Nachricht,
daß ſogar oft zu Sterbenden, die noch nicht oben
waͤren, dieſes Echo des menſchlichen Herzens her¬
unter toͤnte und daß ſie denn eher ſtuͤrben, weil da¬
von das muͤde Herz zerfloͤße. In das Ohr des Klei¬
nen war Muſik, dieſe Poeſie der Luft, noch nie
gekommen. Sein Lehrer hatte nun ein ſogenanntes
Sterbelied gemacht, in dieſem zog natuͤrlicher Weiſe
Guſtav alles, was es vom zweiten Leben ſagte, auf
das erſte und ſie laſen es oft, ohne es zu ſingen.
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/88>, abgerufen am 04.12.2024.
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