Ich habe bisher immer gezögert, um Ihnen einen recht muntern Brief zu schreiben -- Aber Philippine, hier mach' ich keinen. Mein Herz liegt in meiner Brust wie in einer Eisgrube und zittert den ganzen Tag; und doch waren Sie hier so freudig und nirgends betrübt als bei unserem Abschiede, der fast so lange währte wie unser Beisammensein: ich bin wohl selber Schuld? Ich glaub' es manchmal, wenn ich die lachenden Ge¬ sichter um die Residentin sehe oder wenn sie selber spricht und ich mir in ihrer Stelle denke, was ich ihr mit meinem Schweigen und Reden scheinen muß. Ich darf nicht mehr an die Hofnungen mei¬ ner Einsamkeit denken, so sehr werd' ich von den Vorzügen fremder Gesellschaft beschämt -- Und wenn mich eine Rolle, die für mich zu groß ist, freilich niederdrückt: so weiß ich mit nichts mich aufzurichten als daß ich ins stille Land wegschleiche -- da hab' ich süßere Minuten und mir gehen oft die Augen plötzlich über, weil mich da alles zu lie¬ ben scheint und weil da die sanfte Blume und der schuldlose Vogel mich nicht demüthigen sondern meine Liebe achten -- dann seh' ich den Geist der
X 2
Liebe Philippine,
Ich habe bisher immer gezoͤgert, um Ihnen einen recht muntern Brief zu ſchreiben — Aber Philippine, hier mach' ich keinen. Mein Herz liegt in meiner Bruſt wie in einer Eisgrube und zittert den ganzen Tag; und doch waren Sie hier ſo freudig und nirgends betruͤbt als bei unſerem Abſchiede, der faſt ſo lange waͤhrte wie unſer Beiſammenſein: ich bin wohl ſelber Schuld? Ich glaub' es manchmal, wenn ich die lachenden Ge¬ ſichter um die Reſidentin ſehe oder wenn ſie ſelber ſpricht und ich mir in ihrer Stelle denke, was ich ihr mit meinem Schweigen und Reden ſcheinen muß. Ich darf nicht mehr an die Hofnungen mei¬ ner Einſamkeit denken, ſo ſehr werd' ich von den Vorzuͤgen fremder Geſellſchaft beſchaͤmt — Und wenn mich eine Rolle, die fuͤr mich zu groß iſt, freilich niederdruͤckt: ſo weiß ich mit nichts mich aufzurichten als daß ich ins ſtille Land wegſchleiche — da hab' ich ſuͤßere Minuten und mir gehen oft die Augen ploͤtzlich uͤber, weil mich da alles zu lie¬ ben ſcheint und weil da die ſanfte Blume und der ſchuldloſe Vogel mich nicht demuͤthigen ſondern meine Liebe achten — dann ſeh' ich den Geiſt der
X 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0359"n="323"/><prendition="#c">Liebe Philippine,</p><lb/><p>Ich habe bisher immer gezoͤgert, um Ihnen<lb/>
einen recht muntern Brief zu ſchreiben — Aber<lb/>
Philippine, <hirendition="#g">hier</hi> mach' ich keinen. Mein Herz<lb/>
liegt in meiner Bruſt wie in einer Eisgrube und<lb/>
zittert den ganzen Tag; und doch waren Sie hier<lb/>ſo freudig und nirgends betruͤbt als bei unſerem<lb/>
Abſchiede, der faſt ſo lange waͤhrte wie unſer<lb/>
Beiſammenſein: ich bin wohl ſelber Schuld? Ich<lb/>
glaub' es manchmal, wenn ich die lachenden Ge¬<lb/>ſichter um die Reſidentin ſehe oder wenn ſie ſelber<lb/>ſpricht und ich mir in ihrer Stelle denke, was ich<lb/>
ihr mit meinem Schweigen und Reden ſcheinen<lb/>
muß. Ich darf nicht mehr an die Hofnungen mei¬<lb/>
ner Einſamkeit denken, ſo ſehr werd' ich von den<lb/>
Vorzuͤgen fremder Geſellſchaft beſchaͤmt — Und<lb/>
wenn mich eine Rolle, die fuͤr mich zu groß iſt,<lb/>
freilich niederdruͤckt: ſo weiß ich mit nichts mich<lb/>
aufzurichten als daß ich ins ſtille Land wegſchleiche<lb/>— da hab' ich ſuͤßere Minuten und mir gehen oft<lb/>
die Augen ploͤtzlich uͤber, weil mich da alles zu lie¬<lb/>
ben ſcheint und weil da die ſanfte Blume und der<lb/>ſchuldloſe Vogel mich nicht demuͤthigen ſondern<lb/>
meine Liebe achten — dann ſeh' ich den Geiſt der<lb/><fwplace="bottom"type="sig">X 2<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[323/0359]
Liebe Philippine,
Ich habe bisher immer gezoͤgert, um Ihnen
einen recht muntern Brief zu ſchreiben — Aber
Philippine, hier mach' ich keinen. Mein Herz
liegt in meiner Bruſt wie in einer Eisgrube und
zittert den ganzen Tag; und doch waren Sie hier
ſo freudig und nirgends betruͤbt als bei unſerem
Abſchiede, der faſt ſo lange waͤhrte wie unſer
Beiſammenſein: ich bin wohl ſelber Schuld? Ich
glaub' es manchmal, wenn ich die lachenden Ge¬
ſichter um die Reſidentin ſehe oder wenn ſie ſelber
ſpricht und ich mir in ihrer Stelle denke, was ich
ihr mit meinem Schweigen und Reden ſcheinen
muß. Ich darf nicht mehr an die Hofnungen mei¬
ner Einſamkeit denken, ſo ſehr werd' ich von den
Vorzuͤgen fremder Geſellſchaft beſchaͤmt — Und
wenn mich eine Rolle, die fuͤr mich zu groß iſt,
freilich niederdruͤckt: ſo weiß ich mit nichts mich
aufzurichten als daß ich ins ſtille Land wegſchleiche
— da hab' ich ſuͤßere Minuten und mir gehen oft
die Augen ploͤtzlich uͤber, weil mich da alles zu lie¬
ben ſcheint und weil da die ſanfte Blume und der
ſchuldloſe Vogel mich nicht demuͤthigen ſondern
meine Liebe achten — dann ſeh' ich den Geiſt der
X 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/359>, abgerufen am 03.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.