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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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einmal vor sich sehen und sein Haus litt daher wie
die menschliche Luftröhre oder wie Sparta nichts
Fremdes in sich. Er glaubte mit Montaigne,
man könne nicht mehr als Einen Freund, so wie
Eine Geliebte, recht lieben; daher schenkt' er sein
Herz einer einzigen Person, die er unter allen am
höchsten schätzte -- seiner eignen nämlich -- diese
hatt' er geprüft; ihre uneigennützige Liebe gegen
ihn vermochte ihn, daß er Cicero's Ideal er¬
reichte, welcher schrieb, daß man für den Freund
alles, sogar das Schlimme thun könne, was man
für sich nicht thäte.

Er ist der größte Stoiker im Scheerauischen;
er sagt nicht bloß, an allen Vergnügungen sey
nichts: sondern er verachtet auch alle zeitliche Gü¬
ter, weil sie ihn nicht glücklich machen können.
Diese Verachtung derselben ist vom heftigsten Be¬
streben nach ihnen wohl nicht zu trennen, weil ein
Weiser wie die Stoiker in der Note *) sagen, ein
Leben, in dessen Mobiliarvermögen nur eine Kratz¬

*) Si ad illam quae cum virtute degatur, ampulla aut stri¬
gilis
accedat, sumturum sapientem eam vitam potius qua
haec adjecta sint nec beatiorem tamen ob eam causam fore.
Cis. de finib. bonor. et mal. Lib. IV.

einmal vor ſich ſehen und ſein Haus litt daher wie
die menſchliche Luftroͤhre oder wie Sparta nichts
Fremdes in ſich. Er glaubte mit Montaigne,
man koͤnne nicht mehr als Einen Freund, ſo wie
Eine Geliebte, recht lieben; daher ſchenkt' er ſein
Herz einer einzigen Perſon, die er unter allen am
hoͤchſten ſchaͤtzte — ſeiner eignen naͤmlich — dieſe
hatt' er gepruͤft; ihre uneigennuͤtzige Liebe gegen
ihn vermochte ihn, daß er Cicero's Ideal er¬
reichte, welcher ſchrieb, daß man fuͤr den Freund
alles, ſogar das Schlimme thun koͤnne, was man
fuͤr ſich nicht thaͤte.

Er iſt der groͤßte Stoiker im Scheerauiſchen;
er ſagt nicht bloß, an allen Vergnuͤgungen ſey
nichts: ſondern er verachtet auch alle zeitliche Guͤ¬
ter, weil ſie ihn nicht gluͤcklich machen koͤnnen.
Dieſe Verachtung derſelben iſt vom heftigſten Be¬
ſtreben nach ihnen wohl nicht zu trennen, weil ein
Weiſer wie die Stoiker in der Note *) ſagen, ein
Leben, in deſſen Mobiliarvermoͤgen nur eine Kratz¬

*) Si ad illam quae cum virtute degatur, ampulla aut stri¬
gilis
accedat, ſumturum ſapientem eam vitam potius qua
haec adjecta sint nec beatiorem tamen ob eam cauſam fore.
Cis. de finib. bonor. et mal. Lib. IV.
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[238/0274] einmal vor ſich ſehen und ſein Haus litt daher wie die menſchliche Luftroͤhre oder wie Sparta nichts Fremdes in ſich. Er glaubte mit Montaigne, man koͤnne nicht mehr als Einen Freund, ſo wie Eine Geliebte, recht lieben; daher ſchenkt' er ſein Herz einer einzigen Perſon, die er unter allen am hoͤchſten ſchaͤtzte — ſeiner eignen naͤmlich — dieſe hatt' er gepruͤft; ihre uneigennuͤtzige Liebe gegen ihn vermochte ihn, daß er Cicero's Ideal er¬ reichte, welcher ſchrieb, daß man fuͤr den Freund alles, ſogar das Schlimme thun koͤnne, was man fuͤr ſich nicht thaͤte. Er iſt der groͤßte Stoiker im Scheerauiſchen; er ſagt nicht bloß, an allen Vergnuͤgungen ſey nichts: ſondern er verachtet auch alle zeitliche Guͤ¬ ter, weil ſie ihn nicht gluͤcklich machen koͤnnen. Dieſe Verachtung derſelben iſt vom heftigſten Be¬ ſtreben nach ihnen wohl nicht zu trennen, weil ein Weiſer wie die Stoiker in der Note *) ſagen, ein Leben, in deſſen Mobiliarvermoͤgen nur eine Kratz¬ *) Si ad illam quae cum virtute degatur, ampulla aut stri¬ gilis accedat, ſumturum ſapientem eam vitam potius qua haec adjecta sint nec beatiorem tamen ob eam cauſam fore. Cis. de finib. bonor. et mal. Lib. IV.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/274>, abgerufen am 28.11.2024.