Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

des Todes, mit denen sich jeder Schlaf, sogar der
letzte anfängt. Sein Geist hing wiegend in seinen
schlaffen Nerven, von sanften Lüften angeweht: denn
er war schon in jener zersetzenden Nerven-Entzü¬
ckung der Ohnmächtigen, der Gebährenden, der Ver¬
bluteten, der Sterbenden. Aber seine ausgeleerte
Brust stieg leichter auf, sein ziehender Geist dehnte
den Lebensfaden dünner aus.

Viktor würde den Trost der dumpfen Betäubung
genossen haben, womit über einander gehäufte
Schmerzen uns zusammendrücken, wenn er nicht dem
armen B[ - 2 Zeichen fehlen]nden jede Minute diese Schmerzen, d. h.
alle Zurüstungen des Todes hätte sagen müssen. Ach
der Blinde besorgte vielleicht, seinem Lehrer zu
spät mit dem Liede der Entzückung nachzurufen.

Es kam der Abend. Emanuel wurde stiller und
sein Auge starrer und es schien die Phantasien seines
arbeitenden Gehirns in der Stube zu sehen, bis der
Goldstreif der vorgesunknen Abendsonne, den ein
Spiegel auf ihn richtete, gleichsam wie ein Blitz
durch seine Traumwelt fuhr. Leise, aber mit ande¬
rer Stimme sagte er: "in die Sonne!" -- Sie
verstanden ihn und rückten sein Bette und sein Haupt
dem schönen Abendregen der Abendsonne, dem er
sonst so oft sein weiches Herz aufgeschlossen hatte,
entgegen. Viktor erschrack, da seine Augen der
Sonne ungeblendet und unbeweglich offen standen.

des Todes, mit denen ſich jeder Schlaf, ſogar der
letzte anfaͤngt. Sein Geiſt hing wiegend in ſeinen
ſchlaffen Nerven, von ſanften Luͤften angeweht: denn
er war ſchon in jener zerſetzenden Nerven-Entzuͤ¬
ckung der Ohnmaͤchtigen, der Gebaͤhrenden, der Ver¬
bluteten, der Sterbenden. Aber ſeine ausgeleerte
Bruſt ſtieg leichter auf, ſein ziehender Geiſt dehnte
den Lebensfaden duͤnner aus.

Viktor wuͤrde den Troſt der dumpfen Betaͤubung
genoſſen haben, womit uͤber einander gehaͤufte
Schmerzen uns zuſammendruͤcken, wenn er nicht dem
armen B[ – 2 Zeichen fehlen]nden jede Minute dieſe Schmerzen, d. h.
alle Zuruͤſtungen des Todes haͤtte ſagen muͤſſen. Ach
der Blinde beſorgte vielleicht, ſeinem Lehrer zu
ſpaͤt mit dem Liede der Entzuͤckung nachzurufen.

Es kam der Abend. Emanuel wurde ſtiller und
ſein Auge ſtarrer und es ſchien die Phantaſien ſeines
arbeitenden Gehirns in der Stube zu ſehen, bis der
Goldſtreif der vorgeſunknen Abendſonne, den ein
Spiegel auf ihn richtete, gleichſam wie ein Blitz
durch ſeine Traumwelt fuhr. Leiſe, aber mit ande¬
rer Stimme ſagte er: »in die Sonne!» — Sie
verſtanden ihn und ruͤckten ſein Bette und ſein Haupt
dem ſchoͤnen Abendregen der Abendſonne, dem er
ſonſt ſo oft ſein weiches Herz aufgeſchloſſen hatte,
entgegen. Viktor erſchrack, da ſeine Augen der
Sonne ungeblendet und unbeweglich offen ſtanden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0306" n="296"/>
des Todes, mit denen &#x017F;ich jeder Schlaf, &#x017F;ogar der<lb/>
letzte anfa&#x0364;ngt. Sein Gei&#x017F;t hing wiegend in &#x017F;einen<lb/>
&#x017F;chlaffen Nerven, von &#x017F;anften Lu&#x0364;ften angeweht: denn<lb/>
er war &#x017F;chon in jener zer&#x017F;etzenden Nerven-Entzu&#x0364;¬<lb/>
ckung der Ohnma&#x0364;chtigen, der Geba&#x0364;hrenden, der Ver¬<lb/>
bluteten, der Sterbenden. Aber &#x017F;eine ausgeleerte<lb/>
Bru&#x017F;t &#x017F;tieg leichter auf, &#x017F;ein ziehender Gei&#x017F;t dehnte<lb/>
den Lebensfaden du&#x0364;nner aus.</p><lb/>
            <p>Viktor wu&#x0364;rde den Tro&#x017F;t der dumpfen Beta&#x0364;ubung<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en haben, womit u&#x0364;ber einander geha&#x0364;ufte<lb/>
Schmerzen uns zu&#x017F;ammendru&#x0364;cken, wenn er nicht dem<lb/>
armen B<gap unit="chars" quantity="2"/>nden jede Minute die&#x017F;e Schmerzen, d. h.<lb/>
alle Zuru&#x0364;&#x017F;tungen des Todes ha&#x0364;tte &#x017F;agen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Ach<lb/>
der Blinde be&#x017F;orgte vielleicht, &#x017F;einem Lehrer zu<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;t mit dem Liede der Entzu&#x0364;ckung nachzurufen.</p><lb/>
            <p>Es kam der Abend. Emanuel wurde &#x017F;tiller und<lb/>
&#x017F;ein Auge &#x017F;tarrer und es &#x017F;chien die Phanta&#x017F;ien &#x017F;eines<lb/>
arbeitenden Gehirns in der Stube zu &#x017F;ehen, bis der<lb/>
Gold&#x017F;treif der vorge&#x017F;unknen Abend&#x017F;onne, den ein<lb/>
Spiegel auf ihn richtete, gleich&#x017F;am wie ein Blitz<lb/>
durch &#x017F;eine Traumwelt fuhr. Lei&#x017F;e, aber mit ande¬<lb/>
rer Stimme &#x017F;agte er: »<hi rendition="#g">in die Sonne</hi>&#x2014; Sie<lb/>
ver&#x017F;tanden ihn und ru&#x0364;ckten &#x017F;ein Bette und &#x017F;ein Haupt<lb/>
dem &#x017F;cho&#x0364;nen Abendregen der Abend&#x017F;onne, dem er<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o oft &#x017F;ein weiches Herz aufge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en hatte,<lb/>
entgegen. Viktor er&#x017F;chrack, da &#x017F;eine Augen der<lb/>
Sonne ungeblendet und unbeweglich offen &#x017F;tanden.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0306] des Todes, mit denen ſich jeder Schlaf, ſogar der letzte anfaͤngt. Sein Geiſt hing wiegend in ſeinen ſchlaffen Nerven, von ſanften Luͤften angeweht: denn er war ſchon in jener zerſetzenden Nerven-Entzuͤ¬ ckung der Ohnmaͤchtigen, der Gebaͤhrenden, der Ver¬ bluteten, der Sterbenden. Aber ſeine ausgeleerte Bruſt ſtieg leichter auf, ſein ziehender Geiſt dehnte den Lebensfaden duͤnner aus. Viktor wuͤrde den Troſt der dumpfen Betaͤubung genoſſen haben, womit uͤber einander gehaͤufte Schmerzen uns zuſammendruͤcken, wenn er nicht dem armen B__nden jede Minute dieſe Schmerzen, d. h. alle Zuruͤſtungen des Todes haͤtte ſagen muͤſſen. Ach der Blinde beſorgte vielleicht, ſeinem Lehrer zu ſpaͤt mit dem Liede der Entzuͤckung nachzurufen. Es kam der Abend. Emanuel wurde ſtiller und ſein Auge ſtarrer und es ſchien die Phantaſien ſeines arbeitenden Gehirns in der Stube zu ſehen, bis der Goldſtreif der vorgeſunknen Abendſonne, den ein Spiegel auf ihn richtete, gleichſam wie ein Blitz durch ſeine Traumwelt fuhr. Leiſe, aber mit ande¬ rer Stimme ſagte er: »in die Sonne!» — Sie verſtanden ihn und ruͤckten ſein Bette und ſein Haupt dem ſchoͤnen Abendregen der Abendſonne, dem er ſonſt ſo oft ſein weiches Herz aufgeſchloſſen hatte, entgegen. Viktor erſchrack, da ſeine Augen der Sonne ungeblendet und unbeweglich offen ſtanden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/306
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/306>, abgerufen am 23.11.2024.