"ben, nur Daseyn, keine Jahre, nur Terzien -- "kein Ich, nur Vorstellungen desselben -- Ein "Wesen zerfährt in so viel Millionen Wesen als es "Gedanken hat -- Erinnerung ist blos Bewußtseyn "der gegenwärtigen Existenz" -- Auch der Dichter philosophirt, wenigstens für Dichtung und gegen Philosophie. -- Viktor dachte: "du Guter! mir, "nicht dir macht' ich diese Einwürfe."
Es war gegen Mittag: der Himmel war rein aber schwül; die Blumen meldeten das Zusammen¬ ziehen der Blitze durch ihr Verschließen an; alle Auen waren Rauchaltäre, und Düfte gingen als Pro¬ pheten der Gewitterwolken voraus. Mit der phy¬ sischen Gewittermaterie häufte sich in Viktor die moralische an -- er dachte daran, daß oft ein heißer Tag den Schwindsüchtigen das Leben nehme; -- er verwechselte zuweilen die Bitterkeit des Abschieds mit der Wahrscheinlichkeit desselben: denn der von der Luftperspektiv der Furcht be¬ trogne Mensch findet ein Schreckenbild desto nä¬ her, je größer es ist; -- er weinte, wenn er bloß daran dachte, daß er weinen könnte --: aber gleich¬ wol würde die Vernunft die Oberhand über die Gefühle behalten haben, hätte nicht beide folgender Zufall betäubt.
»ben, nur Daſeyn, keine Jahre, nur Terzien — »kein Ich, nur Vorſtellungen deſſelben — Ein »Weſen zerfaͤhrt in ſo viel Millionen Weſen als es »Gedanken hat — Erinnerung iſt blos Bewußtſeyn »der gegenwaͤrtigen Exiſtenz» — Auch der Dichter philoſophirt, wenigſtens fuͤr Dichtung und gegen Philoſophie. — Viktor dachte: »du Guter! mir, »nicht dir macht' ich dieſe Einwuͤrfe.»
Es war gegen Mittag: der Himmel war rein aber ſchwuͤl; die Blumen meldeten das Zuſammen¬ ziehen der Blitze durch ihr Verſchließen an; alle Auen waren Rauchaltaͤre, und Duͤfte gingen als Pro¬ pheten der Gewitterwolken voraus. Mit der phy¬ ſiſchen Gewittermaterie haͤufte ſich in Viktor die moraliſche an — er dachte daran, daß oft ein heißer Tag den Schwindſuͤchtigen das Leben nehme; — er verwechſelte zuweilen die Bitterkeit des Abſchieds mit der Wahrſcheinlichkeit deſſelben: denn der von der Luftperſpektiv der Furcht be¬ trogne Menſch findet ein Schreckenbild deſto naͤ¬ her, je groͤßer es iſt; — er weinte, wenn er bloß daran dachte, daß er weinen koͤnnte —: aber gleich¬ wol wuͤrde die Vernunft die Oberhand uͤber die Gefuͤhle behalten haben, haͤtte nicht beide folgender Zufall betaͤubt.
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»ben, nur Daſeyn, keine Jahre, nur Terzien —
»kein Ich, nur Vorſtellungen deſſelben — Ein
»Weſen zerfaͤhrt in ſo viel Millionen Weſen als es
»Gedanken hat — Erinnerung iſt blos Bewußtſeyn
»der gegenwaͤrtigen Exiſtenz» — Auch der Dichter
philoſophirt, wenigſtens fuͤr Dichtung und gegen
Philoſophie. — Viktor dachte: »du Guter! mir,
»nicht dir macht' ich dieſe Einwuͤrfe.»
Es war gegen Mittag: der Himmel war rein
aber ſchwuͤl; die Blumen meldeten das Zuſammen¬
ziehen der Blitze durch ihr Verſchließen an; alle
Auen waren Rauchaltaͤre, und Duͤfte gingen als Pro¬
pheten der Gewitterwolken voraus. Mit der phy¬
ſiſchen Gewittermaterie haͤufte ſich in Viktor die
moraliſche an — er dachte daran, daß oft ein
heißer Tag den Schwindſuͤchtigen das Leben nehme;
— er verwechſelte zuweilen die Bitterkeit des
Abſchieds mit der Wahrſcheinlichkeit deſſelben:
denn der von der Luftperſpektiv der Furcht be¬
trogne Menſch findet ein Schreckenbild deſto naͤ¬
her, je groͤßer es iſt; — er weinte, wenn er bloß
daran dachte, daß er weinen koͤnnte —: aber gleich¬
wol wuͤrde die Vernunft die Oberhand uͤber die
Gefuͤhle behalten haben, haͤtte nicht beide folgender
Zufall betaͤubt.
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/271>, abgerufen am 23.11.2024.
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