Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Sie heftete schmerzlich ihren Blick auf die tiefe
Sonne und den Gottesacker, hinter dem diese in den
Maitagen wie ein Mensch unterging. "Verlassen
"Sie diese Aussicht, Theuerste (sagt' er ohne Hoff¬
"nung des Gehorsams) -- eine schöne zarte Hülle
"wird von einer schönen zarten Seele am leichtesten
"zerstört. -- Ihre Thränen thun Ihnen zu wehe."
Aber als sie unbefangen erwiderte: "schon lange nicht
"mehr -- nur in frühern Jahren brannten mir da¬
"von die Augenhölen und der Kopf wurde betäubt"
"und als der Gedanke an die bewölkte Perspektive
ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Bu¬
sen wand: so erstarb das Sonnenlicht auf ihren
Wangen -- Thränenströme brachen gewaltsam aus
ihren Augen -- er wandte sich um -- drüben auf
dem Gottesacker sank der Verhüllte auf dem Hügel
der Verhüllten nieder -- die Sonne war schon un¬
ter die Erde, aber die Flöte hatte noch keine Stim¬
me, der Schmerz hat nur Seufzer und keine Tö¬
ne. . . Endlich richtete der schöne Blinde sich un¬
ter zuckenden Schmerzen empor zum Todtenopfer
und die Flötenklagen stiegen von dem festen Grabe auf
in das Abenbroth -- drei Herzen zergingen wie die
Töne, wie das vierte eingesunkne. -- Aber Klotilde
riß sich gewaltsam aus dem stummen Jammer auf
und sang zu dem Todtenopfer leise das himmlische

Hesperus. III. Th. O

Sie heftete ſchmerzlich ihren Blick auf die tiefe
Sonne und den Gottesacker, hinter dem dieſe in den
Maitagen wie ein Menſch unterging. »Verlaſſen
»Sie dieſe Ausſicht, Theuerſte (ſagt' er ohne Hoff¬
»nung des Gehorſams) — eine ſchoͤne zarte Huͤlle
»wird von einer ſchoͤnen zarten Seele am leichteſten
»zerſtoͤrt. — Ihre Thraͤnen thun Ihnen zu wehe.»
Aber als ſie unbefangen erwiderte: »ſchon lange nicht
»mehr — nur in fruͤhern Jahren brannten mir da¬
»von die Augenhoͤlen und der Kopf wurde betaͤubt»
»und als der Gedanke an die bewoͤlkte Perſpektive
ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Bu¬
ſen wand: ſo erſtarb das Sonnenlicht auf ihren
Wangen — Thraͤnenſtroͤme brachen gewaltſam aus
ihren Augen — er wandte ſich um — druͤben auf
dem Gottesacker ſank der Verhuͤllte auf dem Huͤgel
der Verhuͤllten nieder — die Sonne war ſchon un¬
ter die Erde, aber die Floͤte hatte noch keine Stim¬
me, der Schmerz hat nur Seufzer und keine Toͤ¬
ne. . . Endlich richtete der ſchoͤne Blinde ſich un¬
ter zuckenden Schmerzen empor zum Todtenopfer
und die Floͤtenklagen ſtiegen von dem feſten Grabe auf
in das Abenbroth — drei Herzen zergingen wie die
Toͤne, wie das vierte eingeſunkne. — Aber Klotilde
riß ſich gewaltſam aus dem ſtummen Jammer auf
und ſang zu dem Todtenopfer leiſe das himmliſche

Heſperus. III. Th. O
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0219" n="209"/>
          <p>Sie heftete &#x017F;chmerzlich ihren Blick auf die tiefe<lb/>
Sonne und den Gottesacker, hinter dem die&#x017F;e in den<lb/>
Maitagen wie ein Men&#x017F;ch unterging. »Verla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
»Sie die&#x017F;e Aus&#x017F;icht, Theuer&#x017F;te (&#x017F;agt' er ohne Hoff¬<lb/>
»nung des Gehor&#x017F;ams) &#x2014; eine &#x017F;cho&#x0364;ne zarte Hu&#x0364;lle<lb/>
»wird von einer &#x017F;cho&#x0364;nen zarten Seele am leichte&#x017F;ten<lb/>
»zer&#x017F;to&#x0364;rt. &#x2014; Ihre Thra&#x0364;nen thun Ihnen zu wehe.»<lb/>
Aber als &#x017F;ie unbefangen erwiderte: »&#x017F;chon lange nicht<lb/>
»mehr &#x2014; nur in fru&#x0364;hern Jahren brannten mir da¬<lb/>
»von die Augenho&#x0364;len und der Kopf wurde beta&#x0364;ubt»<lb/>
»und als der Gedanke an die bewo&#x0364;lkte Per&#x017F;pektive<lb/>
ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Bu¬<lb/>
&#x017F;en wand: &#x017F;o er&#x017F;tarb das Sonnenlicht auf ihren<lb/>
Wangen &#x2014; Thra&#x0364;nen&#x017F;tro&#x0364;me brachen gewalt&#x017F;am aus<lb/>
ihren Augen &#x2014; er wandte &#x017F;ich um &#x2014; dru&#x0364;ben auf<lb/>
dem Gottesacker &#x017F;ank der Verhu&#x0364;llte auf dem Hu&#x0364;gel<lb/>
der Verhu&#x0364;llten nieder &#x2014; die Sonne war &#x017F;chon un¬<lb/>
ter die Erde, aber die Flo&#x0364;te hatte noch keine Stim¬<lb/>
me, der Schmerz hat nur Seufzer und keine To&#x0364;¬<lb/>
ne. . . Endlich richtete der &#x017F;cho&#x0364;ne Blinde &#x017F;ich un¬<lb/>
ter zuckenden Schmerzen empor zum Todtenopfer<lb/>
und die Flo&#x0364;tenklagen &#x017F;tiegen von dem fe&#x017F;ten Grabe <hi rendition="#g">auf</hi><lb/>
in das Abenbroth &#x2014; drei Herzen zergingen wie die<lb/>
To&#x0364;ne, wie das vierte einge&#x017F;unkne. &#x2014; Aber Klotilde<lb/>
riß &#x017F;ich gewalt&#x017F;am aus dem &#x017F;tummen Jammer auf<lb/>
und &#x017F;ang zu dem Todtenopfer lei&#x017F;e das himmli&#x017F;che<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">He&#x017F;perus. <hi rendition="#aq">III</hi>. Th. O<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0219] Sie heftete ſchmerzlich ihren Blick auf die tiefe Sonne und den Gottesacker, hinter dem dieſe in den Maitagen wie ein Menſch unterging. »Verlaſſen »Sie dieſe Ausſicht, Theuerſte (ſagt' er ohne Hoff¬ »nung des Gehorſams) — eine ſchoͤne zarte Huͤlle »wird von einer ſchoͤnen zarten Seele am leichteſten »zerſtoͤrt. — Ihre Thraͤnen thun Ihnen zu wehe.» Aber als ſie unbefangen erwiderte: »ſchon lange nicht »mehr — nur in fruͤhern Jahren brannten mir da¬ »von die Augenhoͤlen und der Kopf wurde betaͤubt» »und als der Gedanke an die bewoͤlkte Perſpektive ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Bu¬ ſen wand: ſo erſtarb das Sonnenlicht auf ihren Wangen — Thraͤnenſtroͤme brachen gewaltſam aus ihren Augen — er wandte ſich um — druͤben auf dem Gottesacker ſank der Verhuͤllte auf dem Huͤgel der Verhuͤllten nieder — die Sonne war ſchon un¬ ter die Erde, aber die Floͤte hatte noch keine Stim¬ me, der Schmerz hat nur Seufzer und keine Toͤ¬ ne. . . Endlich richtete der ſchoͤne Blinde ſich un¬ ter zuckenden Schmerzen empor zum Todtenopfer und die Floͤtenklagen ſtiegen von dem feſten Grabe auf in das Abenbroth — drei Herzen zergingen wie die Toͤne, wie das vierte eingeſunkne. — Aber Klotilde riß ſich gewaltſam aus dem ſtummen Jammer auf und ſang zu dem Todtenopfer leiſe das himmliſche Heſperus. III. Th. O

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/219
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/219>, abgerufen am 23.11.2024.