gern, daß -- wenn jemals Hofnung dazu war -- es gerade jetzt ist, wo der Deutsche jenen belgischen Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen verspricht, die ihn so ziert und durch die er gegen Melpomenens Dolch schuß- und stichfest wird und in Dante's Hölle, wie Christus in der wahren, ohne Leiden ist. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit der Franzosen und ihr Racine wäre immer für uns ein kurzweiliger Rath gewesen; aber jetzt sind wir, wenn's ein Verfasser nicht gar zu kraus macht und nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit Mäusegift und Rabensteine vorschiebt -- denn das greift uns an -- sondern wenn er nur so halb auf¬ geräumt -- ich seh' ihn ordentlich reiten -- auf ei¬ nem Trauerpferde daher setzt und mit der einen Hand eine Todtenglocke schüttelt und mit der an¬ dern einen Leichenmarschals-Stab Wehe schwenkt; oder wenn er vollends nur die unsichtbaren zugequol¬ lenen Stichwunden der zärtern feinern Seele vor¬ zeichnet: da sind wir jetzt schon im Stande, unsere lustige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der Deutsche erträgt. Leute von geringerer Kraft schla¬ fen wenigstens, damit sie bei einer Götheschen Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬ dende aufrichtet: oder wir vergessen solche Elegien gar, weil wir nach Patner kein Gedächtniß für Schmerzen haben und weil die Vergessenheit --
gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen Melpomenens Dolch ſchuß- und ſtichfeſt wird und in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir, wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das greift uns an — ſondern wenn er nur ſo halb auf¬ geraͤumt — ich ſeh' ihn ordentlich reiten — auf ei¬ nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬ dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt; oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬ lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬ zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬ fen wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬ dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0019"n="9"/>
gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es<lb/>
gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen<lb/>
Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen<lb/>
verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen<lb/>
Melpomenens Dolch ſchuß- und ſtichfeſt wird und<lb/>
in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne<lb/>
Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit<lb/>
der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns<lb/>
ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir,<lb/>
wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und<lb/>
nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit<lb/>
Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das<lb/>
greift uns an —ſondern wenn er nur ſo halb auf¬<lb/>
geraͤumt — ich ſeh' ihn ordentlich reiten — auf ei¬<lb/>
nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen<lb/>
Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬<lb/>
dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt;<lb/>
oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬<lb/>
lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬<lb/>
zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere<lb/>
luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der<lb/>
Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft <hirendition="#g">ſchla¬<lb/>
fen</hi> wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen<lb/><hirendition="#g">Iphigenie</hi> nicht <hirendition="#g">leiden</hi>, weil der Schlaf Lei¬<lb/>
dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien<lb/>
gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr<lb/>
Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[9/0019]
gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es
gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen
Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen
verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen
Melpomenens Dolch ſchuß- und ſtichfeſt wird und
in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne
Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit
der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns
ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir,
wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und
nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit
Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das
greift uns an — ſondern wenn er nur ſo halb auf¬
geraͤumt — ich ſeh' ihn ordentlich reiten — auf ei¬
nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen
Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬
dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt;
oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬
lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬
zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere
luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der
Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬
fen wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen
Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬
dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien
gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr
Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/19>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.