Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.tunke vor, die Kunstrichter zu gewinnen und mit tunke vor, die Kunſtrichter zu gewinnen und mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0156" n="146"/> tunke vor, die Kunſtrichter zu gewinnen und mit<lb/> meiner Feder zu ſchreiben wie mit einem Eiszapfen.<lb/> Aber es iſt mir unmoͤglich — erſtlich weil ich in die<lb/> Jahre komme. Bei den meiſten Menſchen hoͤrt zwar<lb/> wie bei den Voͤgeln das Singen mit der Liebe auf;<lb/> aber bei denen, die ihren Kopf zu einem Treibhaus<lb/> ihrer Ideen machen, geben die Jahre d. h. die Exer¬<lb/> zirtage darin der Phantaſie wie den <hi rendition="#g">Leidenſchaf¬<lb/> ten</hi> einen hoͤhern Wuchs. Dichter gleichen dem<lb/> Glaſe, das im Alter bei dem Zerfallen bunte Farben<lb/> annimmt. — Aber zweitens, wenn ich auch erſt in<lb/> meinem zwanzigſten Jahre bluͤhete: ſo koͤnnt' ich doch<lb/> jetzt nicht froſtig ſchreiben, maßen der Winter vor<lb/> der Thuͤr' iſt. Rouſſeau ſagt, im Stockhauſe braͤchte<lb/> er das beſte Gedicht auf die Freiheit heraus — da¬<lb/> her die ſtaatsgefangnen Franzoſen ſonſt beſſere Proſa<lb/> daruͤber edirten als die freiern Britten — daher dich¬<lb/> tete Milton im Winter. Ich nahm oft im Sommer<lb/> meine Schreibtafel hinaus und wollte ihn an dieſes<lb/> Silhouettenbrett anpreſſen und dann abreiſſen; aber<lb/> die Phantaſie kann nur Vergangenheit und Zukunft<lb/> unter ihr Kopierpapier legen und jede Gegenwart<lb/> ſchraͤnkt ihre Schoͤpfung ein — ſo wie das von Ro¬<lb/> ſen deſtillirte Waſſer nach den alten Naturforſchern<lb/> gerade zur Zeit der Roſenbluͤte ſeine Kraft einbuͤßet.<lb/> Daher mußt' ich allemal warten bis ich untreu wur¬<lb/> de, eh' ich mit meinem Reißzeug an die Liebe<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [146/0156]
tunke vor, die Kunſtrichter zu gewinnen und mit
meiner Feder zu ſchreiben wie mit einem Eiszapfen.
Aber es iſt mir unmoͤglich — erſtlich weil ich in die
Jahre komme. Bei den meiſten Menſchen hoͤrt zwar
wie bei den Voͤgeln das Singen mit der Liebe auf;
aber bei denen, die ihren Kopf zu einem Treibhaus
ihrer Ideen machen, geben die Jahre d. h. die Exer¬
zirtage darin der Phantaſie wie den Leidenſchaf¬
ten einen hoͤhern Wuchs. Dichter gleichen dem
Glaſe, das im Alter bei dem Zerfallen bunte Farben
annimmt. — Aber zweitens, wenn ich auch erſt in
meinem zwanzigſten Jahre bluͤhete: ſo koͤnnt' ich doch
jetzt nicht froſtig ſchreiben, maßen der Winter vor
der Thuͤr' iſt. Rouſſeau ſagt, im Stockhauſe braͤchte
er das beſte Gedicht auf die Freiheit heraus — da¬
her die ſtaatsgefangnen Franzoſen ſonſt beſſere Proſa
daruͤber edirten als die freiern Britten — daher dich¬
tete Milton im Winter. Ich nahm oft im Sommer
meine Schreibtafel hinaus und wollte ihn an dieſes
Silhouettenbrett anpreſſen und dann abreiſſen; aber
die Phantaſie kann nur Vergangenheit und Zukunft
unter ihr Kopierpapier legen und jede Gegenwart
ſchraͤnkt ihre Schoͤpfung ein — ſo wie das von Ro¬
ſen deſtillirte Waſſer nach den alten Naturforſchern
gerade zur Zeit der Roſenbluͤte ſeine Kraft einbuͤßet.
Daher mußt' ich allemal warten bis ich untreu wur¬
de, eh' ich mit meinem Reißzeug an die Liebe
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Zitationshilfe: | Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/156>, abgerufen am 16.02.2025. |