Ich sehe allemal mit Vergnügen, daß die Leute in einer Kirchenmusik sitzen bleiben, weils ein Be¬ weiß ist, daß keiner von der Tarantel gestochen ist: denn liefen sie hinaus, so sähe man, sie könnten keine Mißtöne aushalten und wären also gebissen. Ich als profaner Musikmeister setze nur für wenige Kirchen -- nämlich für reparirte oder für neue den Einweihungslärm -- und verstehe also im Grunde von der Sache nichts, worüber ich mich im Vor¬ beigehen auslassen will; aber soviel sey mir doch er¬ laubt zu behaupten, daß die lutherischen Kirchen¬ musiken etwas taugen -- auf dem Lande, nicht in den Residenzstädten, wo vielleicht die wenigsten Mißtöne richtig vorgetragen werden. Wahrlich ein elender, versoffner, blauer Kantor, der in Bravoura¬ rien sich braun singt und andre braun schlägt, -- es giebt also zweierlei Bravour-Arien -- ist im Stande, mit einigen Professionisten, die Sonntags auf der Geige arbeiten, mit einem Trompeter, der die Mauern Jericho's niederpfeifen könnte ohne In¬ strument, mit einem Schmidt, der sich mit den Paucken herumprügelt, mit wenigen krampfhaften Jungen, die das Singen noch nicht einmal können und die doch einer Sängerin gleichen, welche nicht wie die schönen Künste allein für Ohr und Auge
Elende Extra-Sylbe uͤber die Kir¬ chenmuſik.
Ich ſehe allemal mit Vergnuͤgen, daß die Leute in einer Kirchenmuſik ſitzen bleiben, weils ein Be¬ weiß iſt, daß keiner von der Tarantel geſtochen iſt: denn liefen ſie hinaus, ſo ſaͤhe man, ſie koͤnnten keine Mißtoͤne aushalten und waͤren alſo gebiſſen. Ich als profaner Muſikmeiſter ſetze nur fuͤr wenige Kirchen — naͤmlich fuͤr reparirte oder fuͤr neue den Einweihungslaͤrm — und verſtehe alſo im Grunde von der Sache nichts, woruͤber ich mich im Vor¬ beigehen auslaſſen will; aber ſoviel ſey mir doch er¬ laubt zu behaupten, daß die lutheriſchen Kirchen¬ muſiken etwas taugen — auf dem Lande, nicht in den Reſidenzſtaͤdten, wo vielleicht die wenigſten Mißtoͤne richtig vorgetragen werden. Wahrlich ein elender, verſoffner, blauer Kantor, der in Bravoura¬ rien ſich braun ſingt und andre braun ſchlaͤgt, — es giebt alſo zweierlei Bravour-Arien — iſt im Stande, mit einigen Profeſſioniſten, die Sonntags auf der Geige arbeiten, mit einem Trompeter, der die Mauern Jericho's niederpfeifen koͤnnte ohne In¬ ſtrument, mit einem Schmidt, der ſich mit den Paucken herumpruͤgelt, mit wenigen krampfhaften Jungen, die das Singen noch nicht einmal koͤnnen und die doch einer Saͤngerin gleichen, welche nicht wie die ſchoͤnen Kuͤnſte allein fuͤr Ohr und Auge
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Elende Extra-Sylbe uͤber die Kir¬
chenmuſik.
Ich ſehe allemal mit Vergnuͤgen, daß die Leute
in einer Kirchenmuſik ſitzen bleiben, weils ein Be¬
weiß iſt, daß keiner von der Tarantel geſtochen iſt:
denn liefen ſie hinaus, ſo ſaͤhe man, ſie koͤnnten
keine Mißtoͤne aushalten und waͤren alſo gebiſſen.
Ich als profaner Muſikmeiſter ſetze nur fuͤr wenige
Kirchen — naͤmlich fuͤr reparirte oder fuͤr neue den
Einweihungslaͤrm — und verſtehe alſo im Grunde
von der Sache nichts, woruͤber ich mich im Vor¬
beigehen auslaſſen will; aber ſoviel ſey mir doch er¬
laubt zu behaupten, daß die lutheriſchen Kirchen¬
muſiken etwas taugen — auf dem Lande, nicht in
den Reſidenzſtaͤdten, wo vielleicht die wenigſten
Mißtoͤne richtig vorgetragen werden. Wahrlich ein
elender, verſoffner, blauer Kantor, der in Bravoura¬
rien ſich braun ſingt und andre braun ſchlaͤgt, — es
giebt alſo zweierlei Bravour-Arien — iſt im
Stande, mit einigen Profeſſioniſten, die Sonntags
auf der Geige arbeiten, mit einem Trompeter, der
die Mauern Jericho's niederpfeifen koͤnnte ohne In¬
ſtrument, mit einem Schmidt, der ſich mit den
Paucken herumpruͤgelt, mit wenigen krampfhaften
Jungen, die das Singen noch nicht einmal koͤnnen
und die doch einer Saͤngerin gleichen, welche nicht
wie die ſchoͤnen Kuͤnſte allein fuͤr Ohr und Auge
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/88>, abgerufen am 21.11.2024.
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