Auge erquicken können, dem er in seinem eine Thräne hätte zeigen dürfen -- wenn er so müde der Gegen¬ wart, so gleichgültig gegen die Zukunft, so wund von der Vergangenheit neben dem letzten Narren, neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in seinem Erker in die voll Welten hängende Nacht und in den stillenden Mond und an die Morgenwol¬ ken über St. Lüne blickte: dann ging allezeit das geschwollne Herz und der geschwollne Augapfel ent¬ zwei und die von der Nacht verdeckten Thränen strömten von seinem Erker auf die harten Steine hernieder: "o nur Eine Seele, rief sein Innerstes mit "allen Tönen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige "liebende schaffende Natur diesem armen verschmach¬ "tenden Herzen, das so hart scheint und so weich "ist, so fröhlich scheint und so trübe ist, so kalt "scheint und so warm ist."
Dann war es gut, daß an einem ähnlichen sol¬ chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'h[o]n¬ neur im Erker stand, als gerade die arme Marie -- auf welche das vorige Leben wie eine erdrückende La¬ vine herübergestürzt ist -- seine Dejeuner-Befehle begehrte: denn er stand, ohne einen Tropfen abzu¬ wischen, freundlich auf und ging ihr entgegen und faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die sie aus Furcht nicht wegzog -- wiewohl sie aus Furcht ihr gegen die Hofnung versteinertes Gesicht abdrehte
Auge erquicken koͤnnen, dem er in ſeinem eine Thraͤne haͤtte zeigen duͤrfen — wenn er ſo muͤde der Gegen¬ wart, ſo gleichguͤltig gegen die Zukunft, ſo wund von der Vergangenheit neben dem letzten Narren, neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in ſeinem Erker in die voll Welten haͤngende Nacht und in den ſtillenden Mond und an die Morgenwol¬ ken uͤber St. Luͤne blickte: dann ging allezeit das geſchwollne Herz und der geſchwollne Augapfel ent¬ zwei und die von der Nacht verdeckten Thraͤnen ſtroͤmten von ſeinem Erker auf die harten Steine hernieder: »o nur Eine Seele, rief ſein Innerſtes mit »allen Toͤnen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige »liebende ſchaffende Natur dieſem armen verſchmach¬ »tenden Herzen, das ſo hart ſcheint und ſo weich »iſt, ſo froͤhlich ſcheint und ſo truͤbe iſt, ſo kalt »ſcheint und ſo warm iſt.«
Dann war es gut, daß an einem aͤhnlichen ſol¬ chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'h[o]n¬ neur im Erker ſtand, als gerade die arme Marie — auf welche das vorige Leben wie eine erdruͤckende La¬ vine heruͤbergeſtuͤrzt iſt — ſeine Dejeuner-Befehle begehrte: denn er ſtand, ohne einen Tropfen abzu¬ wiſchen, freundlich auf und ging ihr entgegen und faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die ſie aus Furcht nicht wegzog — wiewohl ſie aus Furcht ihr gegen die Hofnung verſteinertes Geſicht abdrehte
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Auge erquicken koͤnnen, dem er in ſeinem eine Thraͤne
haͤtte zeigen duͤrfen — wenn er ſo muͤde der Gegen¬
wart, ſo gleichguͤltig gegen die Zukunft, ſo wund
von der Vergangenheit neben dem letzten Narren,
neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in
ſeinem Erker in die voll Welten haͤngende Nacht
und in den ſtillenden Mond und an die Morgenwol¬
ken uͤber St. Luͤne blickte: dann ging allezeit das
geſchwollne Herz und der geſchwollne Augapfel ent¬
zwei und die von der Nacht verdeckten Thraͤnen
ſtroͤmten von ſeinem Erker auf die harten Steine
hernieder: »o nur Eine Seele, rief ſein Innerſtes mit
»allen Toͤnen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige
»liebende ſchaffende Natur dieſem armen verſchmach¬
»tenden Herzen, das ſo hart ſcheint und ſo weich
»iſt, ſo froͤhlich ſcheint und ſo truͤbe iſt, ſo kalt
»ſcheint und ſo warm iſt.«
Dann war es gut, daß an einem aͤhnlichen ſol¬
chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'hon¬
neur im Erker ſtand, als gerade die arme Marie —
auf welche das vorige Leben wie eine erdruͤckende La¬
vine heruͤbergeſtuͤrzt iſt — ſeine Dejeuner-Befehle
begehrte: denn er ſtand, ohne einen Tropfen abzu¬
wiſchen, freundlich auf und ging ihr entgegen und
faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die ſie
aus Furcht nicht wegzog — wiewohl ſie aus Furcht
ihr gegen die Hofnung verſteinertes Geſicht abdrehte
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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