der Jüngling heraus und fragte ihn freundlich, wer da sey: denn er war blind. Viktor trat in ein Al¬ lerheiligstes, da er in die mit Linden ausgelaubte Stube ging, die den geslügelten Menschen umgab, der jetzt außer derselben unter der großen Nacht Gottes war. Gegen Mitternacht sollte Emanuel zu¬ rückkommen. Das Zimmer war offen und rein -- einige Blätter von genossenen Früchten lagen auf dem Tisch -- um alle Fenster glühten Blumen -- ein Tubus lehnte an der Wand -- Reste einer orientalischen Kleiderkammer verkündigten den In¬ dier. -- --
Die Stimme des schönen Jünglings hatte etwas unaussprechlich rührendes für ihn, weil sie ihm be¬ kannt vorkam, sie zog tief in sein Herz hinein wie die Melodie eines Liedes, das aus der Kindheit heraufklingt. Er durfte frei mit dem steten Blick der Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten Angesicht ruhen; er wollte die kindlichen Lippen voll Melodien küssen und zögerte noch -- aber da er wie¬ der aus dem Hause ging, um Emanuel zu suchen und da das Glockenspiel wieder anfing -- denn es tönte, wenn die Thür auflief, um dem Blinden alles anzumelden -- so konnt' er sich nicht mehr halten unter dem lieblichen Getöne, sondern berührte den Mund des Blinden, da er am ofnen Fenster lehnte, mit einem weichen Kusse wie mit einem Hauch.
der Juͤngling heraus und fragte ihn freundlich, wer da ſey: denn er war blind. Viktor trat in ein Al¬ lerheiligſtes, da er in die mit Linden ausgelaubte Stube ging, die den geſluͤgelten Menſchen umgab, der jetzt außer derſelben unter der großen Nacht Gottes war. Gegen Mitternacht ſollte Emanuel zu¬ ruͤckkommen. Das Zimmer war offen und rein — einige Blaͤtter von genoſſenen Fruͤchten lagen auf dem Tiſch — um alle Fenſter gluͤhten Blumen — ein Tubus lehnte an der Wand — Reſte einer orientaliſchen Kleiderkammer verkuͤndigten den In¬ dier. — —
Die Stimme des ſchoͤnen Juͤnglings hatte etwas unausſprechlich ruͤhrendes fuͤr ihn, weil ſie ihm be¬ kannt vorkam, ſie zog tief in ſein Herz hinein wie die Melodie eines Liedes, das aus der Kindheit heraufklingt. Er durfte frei mit dem ſteten Blick der Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten Angeſicht ruhen; er wollte die kindlichen Lippen voll Melodien kuͤſſen und zoͤgerte noch — aber da er wie¬ der aus dem Hauſe ging, um Emanuel zu ſuchen und da das Glockenſpiel wieder anfing — denn es toͤnte, wenn die Thuͤr auflief, um dem Blinden alles anzumelden — ſo konnt' er ſich nicht mehr halten unter dem lieblichen Getoͤne, ſondern beruͤhrte den Mund des Blinden, da er am ofnen Fenſter lehnte, mit einem weichen Kuſſe wie mit einem Hauch.
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der Juͤngling heraus und fragte ihn freundlich, wer
da ſey: denn er war blind. Viktor trat in ein Al¬
lerheiligſtes, da er in die mit Linden ausgelaubte
Stube ging, die den geſluͤgelten Menſchen umgab,
der jetzt außer derſelben unter der großen Nacht
Gottes war. Gegen Mitternacht ſollte Emanuel zu¬
ruͤckkommen. Das Zimmer war offen und rein —
einige Blaͤtter von genoſſenen Fruͤchten lagen auf
dem Tiſch — um alle Fenſter gluͤhten Blumen —
ein Tubus lehnte an der Wand — Reſte einer
orientaliſchen Kleiderkammer verkuͤndigten den In¬
dier. — —
Die Stimme des ſchoͤnen Juͤnglings hatte etwas
unausſprechlich ruͤhrendes fuͤr ihn, weil ſie ihm be¬
kannt vorkam, ſie zog tief in ſein Herz hinein wie
die Melodie eines Liedes, das aus der Kindheit
heraufklingt. Er durfte frei mit dem ſteten Blick
der Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten
Angeſicht ruhen; er wollte die kindlichen Lippen voll
Melodien kuͤſſen und zoͤgerte noch — aber da er wie¬
der aus dem Hauſe ging, um Emanuel zu ſuchen
und da das Glockenſpiel wieder anfing — denn es
toͤnte, wenn die Thuͤr auflief, um dem Blinden alles
anzumelden — ſo konnt' er ſich nicht mehr halten
unter dem lieblichen Getoͤne, ſondern beruͤhrte den
Mund des Blinden, da er am ofnen Fenſter lehnte,
mit einem weichen Kuſſe wie mit einem Hauch.
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/325>, abgerufen am 25.11.2024.
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